Als die israelische Historikerin Shulamit Volkov im Jahr 1978 das Konzept des «Antisemitismus als kultureller Code» lancierte, zog sie die Aufmerksamkeit einer Geschichtswissenschaft auf sich, in der die Debatte über den Nationalsozialismus als deutscher Sonderweg in vollem Gange war. Grundlage für Volkovs Konzept war ihre sozialhistorische Dissertation zur antimodernen Haltung deutscher Handwerksmeister im Kaiserreich. Für die deutschen Mittelständler stellte die Industrialisierung eine materielle Bedrohung dar. Einer liberalen Wirtschaftsordnung waren sie dennoch nicht abgeneigt. Sie wetterten gegen eine in ihren Augen zu weit gehende Liberalisierung, aus der Krisen wie die Große Depression von 1873 bis 1896 resultierten, und machten die Juden dafür verantwortlich. «Their enemy was not capitalism», schreibt Volkov, «but the Jews who had led it to inhuman excesses; not liberalism as such, but the Jews who misinterpreted and misrepresented it; it was not the modern state that was responsible for neglecting their interests, but the Jews who thought of theirs only, and so forth.»1
Antisemitismus als kultureller Code bedeutete für Volkov ein «ideelles Syndrom» aus antimodernistischen sozialen und politischen Ansichten. Gerade weil eine antisemitische Weltanschauung in der deutschen Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts vergleichsweise wenig verbreitet war, konnte der Antisemitismus zu einem politischen und subkulturellen Symbol werden – zum Erkennungszeichen eines antimodernen Milieus. Volkov lieferte damit ein empirisches Beispiel für die siebte These der «Elemente des Antisemitismus», die Horkheimer und Adorno 1947, drei Jahre nach Erscheinen der Erstausgabe, ihrer Dialektik der Aufklärung hinzugefügt hatten. Der These zufolge sind antisemitische Einstellungen nur ein Teil des «faschistischen Tickets» und stehen nicht für sich allein: «Wenn die Massen das reaktionäre Ticket annehmen, das den Punkt gegen Juden enthält, gehorchen sie sozialen Mechanismen, bei denen die Erfahrungen der Einzelnen mit Juden keine Rolle spielen.» Es sind die Strukturen – womit Horkheimer und Adorno zu diesem Zeitpunkt vor allem die Ökonomie meinten –, die Einzelne in der industriegesellschaftlichen Masse zu verdinglichten Menschen werden lassen. Der Hass auf die Differenz trifft in seiner antisemitischen Variante die Jüdinnen und Juden, könnte aber auch jede andere Minderheit zur Zielscheibe machen. Antisemitismus erscheint als nur eines von vielen «Tickets», die der Autoritarismus für seine Zwecke mobilisiert.
In der deutschen Geschichtswissenschaft herrscht heute Konsens, dass der Antisemitismus kein beliebiges Ticket war. Über Jahrhunderte hatten antijüdische Vorstellungen den christlichen Okzident geprägt und waren schließlich in den eliminatorischen Antisemitismus des Nationalsozialismus gemündet. Adornos und Horkheimers These ficht das jedoch nicht an: Antisemitismus zu verhindern, bedeutete für sie, Autoritarismus zu bekämpfen; durch konkrete Auseinandersetzungen im gesellschaftspolitischen Handgemenge. Adorno selbst schrieb fast 300 Rundfunkbeiträge und absolvierte über 300 Auftritte vor Präsenzpublikum. Hinter den Türen des Instituts für Sozialwissenschaften schlug er sich mit den Mühen der verwalteten Welt herum, um 1966/67 endlich den Lehrbetrieb eines eigenen Soziologischen Seminars aufnehmen zu können. Die soziologische Ausbildung bedeutete einen praktischen Beitrag zur Demokratisierung der Gesellschaft, und soziologische Untersuchungen, vor allem auch unter den Studierenden selbst, galten als elementarer Bestandteil im Kampf gegen den Autoritarismus, der zugleich ein Kampf gegen den Antisemitismus war.
Auf der Suche nach dem latenten Antisemitismus
Jahrzehnte epigonaler Adorno-Rezeption haben für ein Bild der Kritischen Theorie als abgehobene Philosophie gesorgt. Dabei geht unter, was für das Frankfurter Institut im Mittelpunkt stand: die empirische Sozialforschung. In seinem Aufsatz «Autorität und Familie» von 1936 hatte Horkheimer herausgearbeitet, wie mit Beginn der modernen Gesellschaften der Kampf gegen die Abhängigkeit von Autoritäten in die Verhimmelung von Autorität als solcher umgeschlagen war. Antisemitismus war ein wichtiger Indikator dieses Umschlags. Auch in der postnazistischen Bundesrepublik hatte er lange Zeit eine gemeinschaftsbildende Funktion. Eine 1946 von der zur US-Militärregierung gehörenden Information Control Division durchgeführte Umfrage klassifizierte 18 Prozent der Deutschen als radikale Antisemiten, 21 Prozent als Antisemiten, 22 Prozent als Rassisten, 19 Prozent als Nationalisten und nur 20 Prozent als weitgehend frei von Ressentiments.
Doch die Verhältnisse änderten sich. Während 1950 vier von zehn Befragten der Aussage zustimmten, es wäre besser, keine Juden im Land zu haben, wurde diese vier Jahrzehnte später nur noch von neun Prozent der Befragten bejaht. Die Soziologen Werner Bergmann und Rainer Erb erklärten die Veränderung damit, wie Antisemitismus in öffentlichen Konflikten verhandelt wurde. Obgleich eine «Stunde Null» mit einem radikalen Neuanfang nie stattgefunden hatte, zog das öffentliche Anprangern von antisemitischen Aussagen spätestens ab 1957 Lerneffekte nach sich. Erst dadurch, dass sich relevante Teile der politischen und publizistischen Eliten gegen Antisemitismus wandten, wurden antisemitische Aussagen in der Öffentlichkeit als Skandal wahrgenommen. Die Skandalisierung sorgte schließlich für eine «Kommunikationslatenz»: Eine in der Öffentlichkeit wirksame anti-antisemitische Norm ließ nicht länger zu, dass sich der weiter existierende Antisemitismus artikulierte und verdrängte diese Artikulation ins Private.1
Die Einstellungsforschung ist seitdem auf der Suche nach dem latenten Antisemitismus. Denn wenngleich 1983 nur noch neun Prozent der Aussage zustimmten, es sei besser, keine Juden im Land zu haben, bedeutete dies nicht zwangsläufig, dass sie das Gegenteil befürworteten. Die Hälfte der Befragten flüchtete sich in die Kategorie «unentschieden», was als Bestätigung der Kommunikationslatenz gelesen werden kann. Zu Horkheimers autoritärem Umschlag heißt es in einer der Leipziger Autoritarismus-Studien, die sich dezidiert in die Tradition der Frankfurter Schule stellen: «Diese alte Reaktion stellen wir immer wieder aufs Neue fest – trotz aller ‹Innovationskapriolen›, welche die Gesellschaft beständig schlägt. Aber wenn seit dem Aufkommen des Faschismus in den 1920er Jahren die Autoritarismusforschung diese Reaktion zum Gegenstand einer kritischen Gesellschaftstheorie gemacht hat, ist neben dem Identischen im Wechsel auch das Neue zu beachten.»
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