Die verschiedenen Theorien zur Ablehnung von Gewalt von Thoreau bis Gandhi und King – oder, mit ihren möglichen Ausnahmen für Sklaven und Kolonisierte, von Thoreau bis Fanon und Améry – haben sich in empirische Tatsachen übersetzt: vom Salzmarsch bis zur Birmingham-Kampagne, vom Aufstand John Browns bis zur Dekolonisation Algeriens. Parallel zu ihrer späten Entdeckung der Gewalt haben die Sozialwissenschaften sich in jüngerer Zeit für die konkreten Spannungen zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit interessiert.
Traditionell unterscheidet man zwei Arten der Zurückweisung von Gewalt, die, wie die Philosophin Bonnie Honig in A Feminist Theory of Refusal erinnert, mit literarischen Figuren verbunden sind: Sophokles’ Antigone und Herman Melvilles Bartleby. Die erste ist eine aufständische junge Frau, die sich gegen ein Dekret auflehnt, das die Feinde der Stadt mit einem Bestattungsverbot belegt, und beschließt, für ihren rebellischen Bruder die verbotenen Bestattungsriten durchzuführen. Der zweite ist ein fleißiger und schweigsamer Kanzleischreiber, der beginnt, alle Anweisungen seines Arbeitgebers ohne Angabe von Gründen abzulehnen und sich damit begnügt zu sagen, dass er ihnen lieber nicht nachkommen möchte. Expliziter und spektakulärer Protest, oder stiller und diskreter Widerstand – beide enden tragisch. Antigone fasst nach ihrer Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe den Entschluss, sich zu erhängen, Bartleby lässt sich in seiner Zelle verhungern.
Beide Formen der Zurückweisung von Gewalt findet man in einer Untersuchung der israelischen Anthropologin Erica Weiss über Kriegsdienstverweigerer in Israel wieder (Refusal as Act, Refusal as Abstention, 2016). «Gewöhnlich denkt man, dass Verweigerung bedeutet, Nein zu sagen, aber ist es auch möglich, gar nichts zu sagen oder wegzuschauen?», fragt sie. Während die Verweigerung des Militärdienstes aus Protest gegen die israelischen Operationen in den besetzten palästinensischen Gebieten in der Regel mit der Figur des refuznik assoziiert wird, der seine Entscheidung öffentlich macht, stellt Weiss fest, dass es weit mehr Menschen gibt, die sich dem Militärdienst still und leise entziehen oder zu entziehen versuchen. Sie stellt so einen «Widerstand», der minoritär bleibt, einer «Unterlassung» gegenüber, die sich als majoritär erweist, wobei beide eine unterschiedliche politische Bedeutung haben: «Misstrauen gegenüber dem Staat» im ersten Fall, «kalkulierte Passivität» im zweiten. Zwei Haltungen mit sehr unterschiedlichen Konsequenzen, denn der Widerstand kann einen gewissen Einfluss auf die öffentliche Meinung ausüben, auch auf internationaler Ebene, während die Unterlassung unsichtbar bleibt und so eine größere staatliche Toleranz erfährt.
Sich öffentlich der Wehrpflicht zu widersetzen führt zu Sanktionen seitens der Militärbehörden, die im Allgemeinen in langen Haftstrafen bestehen aber auch in Strategien personaler Diskreditierung, etwa wenn der Lebenslauf einer Person auf Vorstrafen, Vorerkrankungen oder andere Elemente wie die sexuelle Orientierung oder Zugehörigkeit zu einer Minderheit geprüft wird, um ihre ethischen Beweggründe in Zweifel zu ziehen. Diese Stigmatisierung wird von den Leitmedien verstärkt. Umgekehrt führt die Nichtbefolgung der Einberufung und das Abwarten einer möglichen erneuten Vorladung oder die Vorlage mehr oder weniger glaubwürdiger ärztlicher Atteste oft zu einer gewissen Nachsicht seitens der Armee. Man kann Erica Weiss’ Analyse dort bezweifeln, wo sie in der Unterlassung eine «radikalere» Form zu erkennen glaubt als im Widerstand, weil das «Sich-tot-Stellen» die gefährlichen Spielregeln des Staates zurückweise, der offene Protest sich aber «unfreiwillig mit seinem Vorhaben» identifiziere. Eine seltsame Schlussfolgerung angesichts des Mutes der Kriegsdienstverweigerer, die sich einer kriminellen Politik widersetzen.
Seit dem 8. Oktober 2023 drohen bei einer Verweigerung des Militärdienstes und deren öffentlicher Bekundung nicht nur Gefängnisstrafen, sondern auch die Ächtung sowohl durch die israelische Gesellschaft als auch durch die eigenen Angehörigen. Trotz dieser Isolationsrisiken haben Tausende von Reservisten, insbesondere in der Luftwaffe, im April 2025 Petitionen unterzeichnet, in denen sie erklären, dass sie sich nicht an dem Massaker an unschuldigen Palästinenser:innen beteiligen wollen. Wenn sich der Wert einer Geste an dem Preis bemisst, den diejenigen zahlen müssen, die sie vollziehen, dann ist die Geste dieser Frauen und Männer sicher radikal, die ihre Entscheidung offen zum Ausdruck bringen und ihre Gründe einer Gesellschaft erklären, die den Krieg gegen die Bevölkerung von Gaza massiv unterstützt.