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In die Sonne schauenMascha Schilinski
 Min.  28 ago. 2025

«Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd», so beginnt Christa Wolf ihren autobiografischen Roman Kindheitsmuster. Einige Sätze später heißt es dann: «In die Erinnerung drängt sich die Gegenwart ein, und der heutige Tag ist schon der letzte Tag der Vergangenheit. So würden wir uns unaufhaltsam fremd werden ohne unser Gedächtnis an das, was wir getan haben, an das, was uns zugestoßen ist. Ohne unser Gedächtnis an uns selbst.» Mascha Schilinskis Spielfilm In die Sonne schauen ist ein Versuch, uns das Gewesene vertraut zu machen – und mit ihm das, was wir heute sind.

Normalerweise beginne ich eine Besprechung nur ungern mit einem Zitat, weil es vom eigentlichen Thema ablenkt. Wenn man etwas erzählen will, in einem Text oder einem Film, ist es ratsam, sich an konkrete Ereignisse, auffindbare Orte, real existierende Personen zu halten: die Bestandteile unseres modernen «Es war einmal». Nun werden wir es bei Schilinski mit einer Arbeit zu tun bekommen, die das Konzept des «Es war einmal» und mit ihm das ganze Genre des Historienfilms grundsätzlich infrage stellt.

Was heißt es, wenn ein derartiger Zweifel von einem deutschen Werk erhoben wird, entstanden in einem Land, dessen Verhältnis zur eigenen Geschichte stets öffentlich und besonders streng beurteilt wird? Und was bedeutet es ganz allgemein, wenn dieser Film zu einer Zeit in die Kinos kommt, in der das Ende einer globalen Zivilisation, wie wir sie noch kennengelernt haben, zum Greifen nahe scheint?

Ganz unabhängig von solchen Grundsatzfragen stellt ein In die Sonne schauen eine konzeptuelle Herausforderung dar, denn diesen Film zu erklären, ist viel schwieriger, als ihn zu verstehen. Er bleibt auf präzise Weise unbestimmt, wie der menschliche Überlebensinstinkt oder unsere zu Beginn des Lebens ausgeformten Empfindungen, die erst später, so undurchschaubar wie machtvoll, wieder an die Oberfläche treten.

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Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. – Filmstill In die Sonne schauen (Mascha Schilinski / Neue Visionen)

Versehrte Vergangenheiten

Frei nach Proust ist Schilinskis Film in Kindheit und Jugend angesiedelt. Das Alter der Protagonistinnen prägt die Atmosphäre von In die Sonne schauen mehr als die zeitliche Epoche, in denen wir ihnen jeweils begegnen. Da ist Alma, ein kleines Mädchen kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs; Erika, eine junge Frau in der Nachkriegszeit der späten 1940er Jahre; Angelika, eine Teenagerin in der DDR der 1980er Jahre; und schließlich Lenka, eine weitere Teenagerin (sowie ihre kleine Schwester Nelly) in der Gegenwart. Schon in den Namen klingt ein Bezug zwischen den Mädchen an, eine Klammer. Im Falle der ersten drei umfasst sie auch eine Blutsverwandtschaft, diese bleibt jedoch stets vage, implizit. Verbunden sind die weiblichen Figuren allerdings nicht nur durch Abstammung, sondern vor allem durch den Ort, an dem sie leben: ein Vierseithof in der Altmark im ländlichen Sachsen-Anhalt.

Zu Beginn lernen wir jene Figur kennen, die uns im Film zwar am seltensten wiederbegegnet, aber eine häufig wiederkehrende Geste einführt: etwas nachzuahmen, um es sich besser vorzustellen. Die junge Frau humpelt mit Krücken durch die Flure des Gutshauses. Zunächst scheint es, als hätte sie nur ein einziges Bein, doch schnell wird deutlich, dass sie sich das andere nur hochgebunden hat, wahrscheinlich um nachzuempfinden, wie es ihrem Onkel Fritz ergeht, der nebenan in seinem Zimmer schläft. Sein Beinstumpf ragt unter den Laken hervor, er ist umringt von Zeichnungen seiner Verstümmelung. Die junge Frau beobachtet ihn mit heimlicher Faszination, bis jemand brüllt: «Erika! Die Schweine! Bring sie in den Stall!»