1. Vierzig Jahre, achtzig Jahre
Am 8. Mai 1985 hielt der Bundespräsident Richard von Weizsäcker eine Rede im Deutschen Bundestag, in der er den 8. Mai 1945 einen «Tag der Befreiung» nannte. Aus unterschiedlichen Gründen fehlte an den Rändern des Plenarsaals eine ganze Reihe von Parlamentariern. CSU-Abgeordnete waren vorsorglich ferngeblieben, weil sie die Formulierung der «Befreiung» fürchteten, und Abgeordnete der Grünen waren nach Auschwitz gereist, um an die deutsche Geschichte zu erinnern. Die Rede war von einem Team des Bundespräsidenten über Monate hin vorbereitet worden. Das Ergebnis war ein Text, der beim Nachlesen heute nur Enttäuschung auslösen kann, weil er die widersprüchlichen Wünsche damaliger Politiker berücksichtigte.
Weizsäckers Vortrag vom 8. Mai 1985 wird heute als offizieller Beginn und als erste staatstragende Demonstration einer deutschen «Erinnerungskultur» betrachtet, die nach ihrer Durchsetzung weltweit Beachtung fand und sich nach Meinung vieler Beobachter inzwischen in einer Krise befindet. In der Diagnose dieser Krise gibt es keinen Konsens und wird es aller Voraussicht nach keinen geben können, zu unversöhnlich sind die Positionen. Mit diesen Unversöhnlichkeiten und Polarisierungen sind wir in die Epoche vor Weizsäckers Rede zurückgekehrt, denn auch diese zeichneten sich durch inkompatible Versionen und polemische Abgrenzungen aus.
Die Erinnerung an den 8. Mai 1945 war immer umstritten geblieben. Erst Weizsäckers Rede wurde die Kraft zugeschrieben, einen Konsens zu formulieren, der die Antagonismen der Generationen und der politischen Parteienlandschaft überbrückte und auch jene miteinbezog, die am 8. Mai 1985 vorsorglich fehlten. Damit ist es jetzt vorbei, denn im Bundestag sitzt eine Fraktion, die Positionen vertritt, die vor der Rede Weizsäckers insbesondere in der CDU/CSU gang und gäbe gewesen waren, aber seit 1985 als Position der «Ewig-Gestrigen» verachtet wurden. Achtzig Jahre nach Kriegsende befinden wir uns in einer unvorhergesehenen Situation: Die Ewig-Gestrigen haben überlebt, und zwar in einer solchen Zahl, dass sie schon bald ihre eigenen geschichtsrevisionistischen Veranstaltungen zum 8. Mai abhalten könnten, so wie sie auch eigene Buchmessen, politische Fortbildungen und Beratungstreffen zur ethnischen Säuberung der deutschen Bevölkerung veranstalten. Der Bundestag ist für eine Rede zum 8. Mai zu einem problematischen Ort geworden.
Es wäre zu viel verlangt, von einer Rede, die vor vierzig Jahren gehalten wurde, Aufschluss über die Gegenwart zu erwarten. 1985 waren vierzig Jahre seit Kriegsende vergangen, und dieses Jahr werden am 8. Mai wiederum vierzig Jahre danach vergangen sein. Wie sich nachlesen lässt, stellt die Rede von 1985 an prominenter Stelle die Frage nach den kommenden vierzig Jahren, die erst am 8. Mai 2025 vergangen sein werden. Das geschieht in biblischen Gleichnissen, durch eine unverhohlene Aneignung der hebräischen Bibel für eine nationale und der Form nach christliche Allegorie. Richard von Weizsäcker beschwört Moses, der das Gelobte Land der wiedererlangten Souveränität und Vereinigung Deutschlands von ferne erscheinen sieht – nur von Ferne und erst in vierzig Jahren? Und er erinnert an das Buch der Richter, in dem konstatiert wird, dass ein politischer Lernprozess – der politischen Theologie im Palästina der Richterzeit, der politischen Erfahrung der Kriegsgenerationen in Deutschland – nach vierzig Jahren auch wieder vergessen sein kann.
Es ist kaum vorstellbar, dass die Rede des Bundespräsidenten am 8. Mai 2025 nicht auf diese doppelte Steilvorlage für die Nachgeborenen eingehen wird. Ich befinde mich beim Schreiben des vorliegenden Textes im Vorhof und in der Nachhut dieser Anrede. Es hat keinen Sinn, einer Rede des jetzigen Bundespräsidenten vorzugreifen – das könnte dieser Text nicht, selbst wenn er es wollte. Ich stelle die Frage nach Alternativen – der Anredeform, der Erinnerung und der Positionsbestimmung. Und wenn diese Alternativen nicht verwirklicht wurden und auch dieses Jahr nicht verwirklicht werden, sind ihre Antworten möglicherweise weder von 1985 noch von 1945, ja nicht einmal von heute.
2. Die Weizsäcker-Rede
Die Rede zum 8. Mai 1985 begann folgendermaßen: