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Cristina Rivera GarzaLilianas unvergänglicher Sommerübers. v. Johanna Schwering
Klett-Cottajul. 2025 26 € 336 pág.

Das öffentliche Sprechen über Literatur, ob in Lesungen oder Buchrezensionen, folgt für gewöhnlich wohletablierten Regeln und Choreografien. Lässt man gewisse Randbezirke wie die performende Lyrikszene beiseite, so steht für die Wahrnehmung des Buchs als Kunstobjekt oder den Dialog mit der Autorin ein fester Katalog an Haltungen zur Verfügung, die sich am Ideal einer zugewandten Distanzwahrung ausrichten. Wer jedoch einmal eine Lesung der mexikanischen Schriftstellerin Cristina Rivera Garza besuchte, wird sich erinnern, wie sehr all jene ritualisierten Umgangsformen mit Literatur erschüttert wurden: während der Präsentation Liebeserklärungen und mit brüchiger Stimme vorgetragene Fragen aus dem Publikum; im Anschluss lange Schlangen tränengeschüttelter Leserinnen, die die Autorin fest in die Arme schließen, sich mit ihr fotografieren und geradezu andächtig ihre zerlesenen Bücher signieren lassen.

Was sich jedoch aus der Perspektive des affektgedimmten Literaturbetriebs als verdächtiger Überschuss an Katharsis und Aura ausnimmt, ist im Fall von Rivera Garza weder Pose noch Ausweis vermeintlich zweifelhafter literarischer Qualität (was angefügt werden muss für die Ewig-Abgeklärten, denen bei lektüreinduziertem Emotionenüberschuss nur der Young Adult-Buchmessenstand vor dem geistigen Auge erscheint). Das lässt sich nirgends besser beobachten als anhand ihres 2021 veröffentlichten und soeben in der brillanten Übersetzung von Johanna Schwering auf Deutsch erschienenen Textes Lilianas unvergänglicher Sommer. Obwohl die 1964 im Nordosten Mexikos geborene Rivera Garza seit gut dreißig Jahren zu den vielseitigsten und wichtigsten Autorinnen Lateinamerikas zählt, bedeutete erst der 2024 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Band einen Wendepunkt in ihrer internationalen Rezeption. Rivera Garza setzt sich darin erstmals öffentlich und in Buchform mit dem Mord an ihrer Schwester Liliana auseinander, die 1990 in Mexiko-Stadt als junge Studentin von ihrem Ex-Freund getötet wurde. Knapp drei Jahrzehnte später begibt sich die ältere Schwester auf die Suche nach der Polizeiakte eines Verbrechens, das nie gesühnt wurde: Der Täter, Ángel González Ramos, setzte sich vermutlich mit Hilfe seiner Familie und dank der untätigen Strafverfolgungsbehörden in die USA ab.

Rivera Garzas Odyssee durch die mexikanische Bürokratie geht einher mit einer komplexen Rekonstruktion des Verbrechens, aber auch der Lebensgeschichte und Persönlichkeit Lilianas, die – und das erklärt die ungewöhnlichen Reaktionen auf das Buch – in den vergangenen vier Jahren seit dem Erscheinen des Textes zu einer Ikone der Erinnerung und des Widerstands gegen die geschlechterspezifische Gewalt in Mexiko und ganz Lateinamerika geworden ist. Die deutsche wie die US-amerikanische Ausgabe dokumentieren diese Wirkungsgeschichte des Buches eindrücklich, indem sie Fotos von Demonstrationen zeigen, auf denen Plakate mit Lilianas Namen hochgehalten werden. Auch auf vielen Wänden in Mexiko-Stadt ist er mittlerweile zu lesen, ebenso wie auf dem Campus der Uni, an der Liliana studiert hat und wo ein Mural für Opfer von Femiziden geschaffen wurde, in dessen Mitte ihr Porträt prangt. Und in ihrem ehemaligen Wohnviertel in der Calle Mimosas findet sich heute eine Gedenkplakette mit der Inschrift «Durch diese Straßen ging Liliana Rivera Garza».

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Die starken Gefühle, die Rivera Garzas Text nicht nur in Lateinamerika hervorgerufen hat, werden schon vor dem schieren Ausmaß der misogynen Gewalt in der Region verständlich. Allein für 2023 hat die UNO fast 4.000 Femizide verzeichnet, ohne die Dunkelziffer der Fälle, die nicht erfasst oder falsch definiert werden. Mindestens alle zwei Stunden, heißt das, stirbt in Lateinamerika und der Karibik eine Frau, weil sie eine Frau ist. Und in mehr als zwei Drittel der Verbrechen sind die Täter, wie beim Mord an Liliana Rivera Garza, (Ex-)Partner der Opfer, die mehrheitlich, wie auch hier, straffrei bleiben. Aber genauso entscheidend ist die unter so vielen anderen Texten zu diesem Thema aus den vergangenen Jahren herausstechende literarische Qualität von Rivera Garzas Beitrag, die Eindringlichkeit seiner Suche nach Erklärungen für diese Gewalt, nach einer Sprache für Trauer, Mobilisierung und Aufarbeitung.