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Ich hatte immer das Gefühl, dass man in jedem Porträt einer palästinensischen Familie den Schatten einer verschwundenen Person sehen kann, deshalb sind meine Fotos in Dämmerlicht getaucht.
—Niraz Saied, palästinensischer Fotograf1

Zahlreiche Kameras hielten den Moment fest, in dem der Vater des palästinensischen Journalisten Mohammed Mansour um seinen Sohn trauerte, nachdem dieser durch einen gezielten israelischen Luftangriff auf seinen Aufenthaltsort in Gaza getötet wurde. Auf den Aufnahmen liegt Mansours Leiche umgeben von weiteren Trauernden, seine Presseweste gut sichtbar in der Mitte des Bildes. Der Vater greift sich das Mikrofon von Palestine Today TV, drückt es dem toten Sohn in die Hand und fleht ihn an: “احكي، احكي، ضلك احكي” – «erzähl, erzähl, hör nicht auf zu erzählen».

Wenige Stunden später wurde auch Hossam Shabat, Journalist wie Mansour, zum tödlichen Opfer eines gezielten israelischen Luftangriffs. In seiner letzten Botschaft, die posthum veröffentlicht wurde, appelliert er an alle, weiter Zeugnis abzulegen und nicht damit aufzuhören, die Geschichten aus Gaza zu erzählen.

Wenn Akteure im Staats- und Militärdienst die gezielte Tötung von Journalist*innen und Schriftsteller*innen rechtfertigen, indem sie sie als Terrorist*innen markieren, dann erkennen sie damit implizit die politische Macht von «bloßen» Wörtern und «bloßem» Schreiben an. Die Kritik und das Ausstellen der Taten eines machtvollen Militärapparats scheinen als aktive Bedrohung empfunden zu werden.

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If I Must Die, das ikonische Gedicht des Dichters Refaat Alareer aus dem Jahr 2011, liest sich nach seiner Ermordung im Jahr 2023 rückblickend wie ein Testament. Es fordert die Überlebenden auf, gegen das Vergessen anzuschreiben. «Palästina ist nur eine Geschichte entfernt», schrieb Alareer 2014 in der von ihm herausgegebenen Anthologie Gaza Writes Back – ein Plädoyer für die Gegenmacht des Erzählens unter den Bedingungen von Militärbesatzung, Vertreibung, Landnahme und Siedlerkolonialismus. Gedichte und Geschichten, argumentiert Alareer, vermögen es, die Idee der Befreiung eines Landes am Leben zu halten.

Heimat und Zugehörigkeit zeichnen sich in Form von Gedichten und Geschichten ab, insbesondere dort, wo Land enteignet und annektiert, Orte und Straßen umbenannt, Städte, Landschaften und Infrastrukturen verändert, zerstört und entfremdet werden. Die illegale Besiedlung eines Territoriums löscht bestehende Narrative buchstäblich aus, und mit ihnen die physischen Räume und ihre Namen. Unter solchen Umständen kann der bloße Akt des Erzählens die Realität der Besatzung symbolisch rückgängig oder ungeschehen machen: indem die Geschichten derjenigen gesammelt und erinnert werden, die das Land schon lange kennen und denen es am ehesten gehört; indem vorkoloniale Zeiten durch die Erzähl- und Schreibkunst wieder aufleben; indem Namensgebung und Sprachen die neu angelegten Archive des kolonialen Establishments erschüttern.