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«Die Kritik ist in der Krise», man hört den Satz wie ein Mantra. Ich könnte euch die Unkenrufe und Argumente aufzählen: der Zusammenbruch von Academia, der Durchbruch Künstlicher Intelligenz, Close Reading als Care, Close Reading als Nonplusultra, das Problem der Autorität, das Problem historischer und materieller Kontexte, die sozialen Pflichten der Kritikerin. Einige ausgezeichnete Artikel handeln davon, und viele schlechte. Ich werde die Argumente nicht wiederholen. Ihr habt sie gehört.

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Was ich mir stattdessen anschauen will, ist die Form eines Rechtecks, eine viereckige geometrische Figur mit paarweise gleich langen Seiten. Denk dir ein vollständiges Rechteck. Nun nimm die vierte Seite weg und bringe die übrigen in eine farbige Fläche. Herzlichen Glückwunsch, du bist Robert Motherwell. Das Jahr ist 1968, und Amerika in der Krise. Du hast ein aufgefrischtes Bewusstsein von Sterblichkeit und dem prekären Gleichgewicht des Daseins. Du beginnst mit dem Malen der Serie Open, die ganz aus Rechtecken besteht, Rechtecke auf farbigen Flächen, und allen fehlt eine Seite.

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Das Jahr ist 2025, und Amerika in der Krise. Genau wie die Kritik. Ich habe ein aufgefrischtes Bewusstsein von Sterblichkeit und dem prekären Gleichgewicht des Daseins. Ich sitze auf meiner Daunendecke und schaue auf Robert Motherwells Rechtecke, als würde ich dort aus dem Bildrahmen fallen, wo die Rechtecke nicht schließen und der Raum sich theoretisch unendlich in Farbe und Nichts verlängert. Ich fühle mich wie ein Faun, der gerade erst laufen lernt.

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Seine Fassung des Balletts Afternoon of a Faun schuf Jerome Robbins 1953 für die Tänzerin Tanaquil Le Clercq. Drei Jahre später wurde Le Clercq durch Polio gelähmt und konnte es nie wieder tanzen. Statt in einem griechischen Hain spielt das Stück in einem Tanzstudio: ein selbstreflexiver moderner Zug, der viele Arbeiten des Neuen Amerikanischen Balletts im 20. Jahrhundert auszeichnet. Ich denke an Tanaquil Le Clercq, während ich mich bemühe, mein Bein in dem von Robbins gewählten Développé zur Seite und schräg nach oben zu strecken, wobei mir mein schwarzes Fenster mit den blinkenden Lichtern von Brooklyn als nächtlicher Spiegel, als Leinwand dient.

© Till Großmann

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Bei der Aufführung von Afternoon of a Faun gibt es kein Studio und keine Fenster. Das Publikum ist der Spiegel.

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Der amtierende Gesundheitsminister der USA ließ verlautbaren, dass er nicht daran glaubt, dass der Polio-Impfstoff Polio verhindert.

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Vielleicht, denke ich, ist die fehlende vierte Seite in Motherwells Rechtecken das Publikum als Spiegel. Open Study 1 von 1967, Kohle und Acryl auf Leinwand in der Farbe gegerbten Leders, besteht eigentlich aus zwei aneinandergrenzenden parallelen Rechtecken, die beide an ihren oberen Enden offen sind. In Open Study 6, ein Jahr später, Kohle und Acryl auf Papier, sieht man nur noch ein offenes Rechteck auf weißem Grund. Das Grau ist das Grau von Marley-Böden in Tanzstudios.

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Beim letzten Mal, als sich die Welt auf eine ähnliche Art unsicher anfühlte wie jetzt, als wären mir gerade erste Beine gewachsen, war ich siebzehn. Der Motherwell, den ich kannte, war früher Expressionismus, und ich glaube nicht, dass ich diesen Motherwell besonders mochte. Damals tanzte ich noch nicht, an meinem Teenager-Spiegel klebte eine Postkarte mit Susan Sontag. Ich liebte den Song Anthems For a Seventen-Year-Old Girl, den Broken Social Scene vor ein paar Jahren aufgenommen hatten. Er hatte einen Refrain – Park that car, drop that phone, sleep on the floor, dream about me –, von dem ich mir wünschte, was sich wahrscheinlich jedes siebzehnjährige Mädchen wünscht: dass er von mir handelt.

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Der Refrain ist ein Rechteck. Park That Car (Seite 1), Drop That Phone (Seite 2), Sleep On The Floor (Seite 3), Dream About Me (Seite 4). In Motherwells Rechtecken fehlt durchweg die vierte Seite, die Seite mit «Dream About Me». Der Song wurde erst kürzlich wieder ein Hit, und Maggie Rogers hat ihn gecovert. Ich höre das Original auf Repeat in der U-Bahn.

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Der Faun in der Jerome-Robbins-Version eröffnet das Stück schlafend auf dem Boden. Es wird nicht klar, ob die Tänzerin sein Traum ist, ob sie in ihn hineinschleicht, oder ob nicht das Publikum all das träumt.

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Die Wahrheit ist: Die meisten legen weder das Phone weg, noch gehen sie ran, und schon gar nicht träumen sie von uns Kritikerinnen. Und auch die Kritiker sehe ich nicht allzu viel träumen. Was ich sehe, ist ein Trend bei den jüngeren Literaturleuten zu ausdrücklich rechten Einstellungen, nicht nur im Netz, auch in New York. Es ist wie ein letztes Aufbäumen der Szene vom Dimes Square und einer Neoromantik, die ihren Kurs wechselt: weg von der Ausweitung der Vorstellungskraft, hin zur faschistischen Klaustrophobie. Das genaue Gegenteil eines Motherwell-Rechtecks: eine Figur mit ausgehärteten Grenzen, theoretisch unergiebig. Ein Spiegel nur für das anstößige, aufmerksamkeitsheischende Ego. Eine Romantik, die leicht zu Propaganda wird, statt leichte Lösungen zu verweigern. Verweigerung und die Entscheidung dazu sind unendlich interessanter, humaner auch. Und vielleicht wird es jetzt, in der Krise, auch leichter, sich anderes vorzustellen.

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Manche glauben, die Aufmerksamkeit der Kritik für historische materielle Bedingungen behindere das Gefühl. Ich möchte widersprechen und eine Kritik vorschlagen, die verzaubert und gleichzeitig Materialitäten im Blick behält. Wie sähe eine neoromantische Gegenkritik aus, die Forderungen nach Kontext und Materialität nicht aufgibt und dennoch sagt: Dream About Me? Wie geht Wiederverzauberung mit einem umfassenden Kontextbewusstsein zusammen? Die Zurückweisung einfacher Lösungen ist, denke ich, ein guter Anfang und schafft neue, überraschende Verbindungen zum Gefühl.

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«What better way to spend one’s life», schrieb Motherwell in einem Brief an den Dichter Frank O’Hara, «than to have, as one’s primary task, the insistence on the integrity of feeling?»

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Vielleicht können sich Künstler solche Sätze leisten, und Kritiker eher nicht. Oder wenn wir es tun, muss die erwähnte Ganzheitlichkeit von einer Nähe zum Gegenstand begleitet sein, der Berücksichtigung seiner zeitlichen und materiellen Bedingungen, die in ihm zusammenlaufen und untrennbar werden. Die Kritik ist selbst eine literarische Kunst zweiter Ordnung, also müssen wir das hier und vieles andere – im Hain tanzen, den Zauber und seine hypnotische Wirkung bewahren – gleichzeitig tun. Sonst fallen wir aus dem Rahmen und von den Rändern der Ebene und verlieren den Boden unter den Füßen. Wer wird uns lesen, in einer aus Schicksal und Selbstverschuldung postliteral gewordenen Welt? Wer wird der Spiegel sein, die vierte Seite, die Wand, unser Publikum? Werden wir in erster Linie für andere Kritiker schreiben? Vielleicht tun wir es schon.

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Eine kritische Wiederverzauberung fußt auf genauem Lesen und Hinschauen, ist aber mehr als das. In den Aufnahmen, die Tanaquil Le Clercq und Jacques d’Amboise in Afternoon of a Faun zeigt, bevor sie durch Polio gelähmt wurde, haben seine schwarzen Ballettschuhe weder Bänder noch Gummizüge. Sie sollen wie Faunhufe aussehen. Le Clercq hingegen trägt, in eine modern geschnittene griechische Tunika gehüllt, ihre durch und durch menschlichen Spitzenschuhe: ganz Kunst, keine Natur. Trotz Motherwells Primat des Gefühls erkennt man in Open No. 161 in Beige and Black von 1970 fast einen Malewitsch – ein winziges, horizontales Rechteck, an den oberen Rand gedrängt und im Schatten des Formalismus zur Geste erstarrt.

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Meine Ballettlehrerin, die Choreografin Julia Gleich, erzählt mir eine Geschichte über das Laban Dance Centre in London. In Übereinstimmung mit Rudolf Labans Philosophie der Orientierung im Tanz wurde das Gebäude ganz ohne rechte Winkel konzipiert. Das macht die Orientierung im Studio für die Tänzer unglaublich schwierig. Mit anderen Worten: Theoretisch abstrakte Grundlegungen sind nicht alles und können, wenn sie erzwungen werden, leicht nach hinten losgehen.

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Schon von Natur aus ist ein Faun ein verzaubertes Wesen: halb Ziege, halb Mensch. Er lebt in den Hainen Silenus’ und ist sanftmütiger als ein Satyr. Der Barberinische Faun, aus dem Stein gehauen um das 2. Jahrhundert vor Christus, befindet sich heute in München in der Glyptothek. Er schlummert auf eigenem Marmorgrund, halb aufrecht sitzend, die Beine provozierend aufgespreizt. Wovon er träumt, weiß niemand.

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Beim Anschauen von Motherwells Open-Rechtecken stellt sich ein Gefühl von Ganzheitlichkeit bei mir ein. Ich werde zutiefst berührt, ohne genau zu verstehen, was alles bedeutet. Red Open #3 von 1976 zum Beispiel, das heute im Cranbrook Art Museum hängt, liebe ich sehr. Das Bild ist mehr als zwei Meter hoch, karminrot, mit einem langgezogenen, schmalen Rechteck mit weißen, unregelmäßig verteilten Linien. In seiner Serie wollte Motherwell den Eindruck von Offenheit, Möglichkeit, Luft vermitteln und führte dies auch auf den Einfluss des Zen zurück. Ich denke das beim Betrachten ständig mit, und trotzdem ist da ein Gefühl von Gefahr. Hat das damit zu tun, dass Motherwells Absicht nicht aufgeht? Dass meine Deutung nicht aufgeht?

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Vielleicht scheitert keine von beiden. Vielleicht gehört ein Gefühl der Gefahr zum Möglichkeitssinn dazu. Steht ein Faun, der in Folge einer lexikalischen Verwechslung mit fawn auch ein neugeborenes Rehkitz ist, sicher auf seinen wackligen Beinen? Nein. Im Tanz nimmt man ein Studio mit Spiegel zu Hilfe, um zu sehen, was man falsch macht, und um es zu korrigieren. Ist der Spiegel nicht da oder wird Publikum, entsteht ein Gefühl der Gefahr, weil Fehler nicht mehr korrigiert werden können.

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Kritik auf dem Drahtseil, Kritik als Wiederverzauberung scheint mir damit verwandt zu sein. Man kann sich bei ihrer Ausübung nicht jederzeit auf einen Spiegel verlassen, um Fehler in Echtzeit zu korrigieren. Will ich, dass du von mir träumst? Okay, aber erst muss ich dich dazu bringen, das Phone wegzulegen und die Luft anzuhalten. Motherwell verlor 1965 einen engen Freund, was mit ein Grund dafür war, dass er seine Praxis überdachte und die Open-Serie begann. In gewissem Sinne ein Spätwerk, sich selbst bewusst, und seiner Sterblichkeit.

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Wo kommt der Mut her, ein Spätwerk zu mögen, wenn man im Grunde noch jung, wenn auch kein siebzehnjähriges Mädchen mehr ist? Vielleicht ist es die Welt, die spät dran ist, nicht du? In letzter Zeit endet früher oder später alles im Netz. Hier ist es nicht still und gemächlich wie im heiligen Hain von Silenus. Die Kritik muss das Aufmerksamkeitsbedürfnis einer anrollenden Apokalypse stillen.

© Till Großmann

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So geht also die Welt zugrunde. Ein Leben im Dröhnen von Gräueln und Gleichgültigkeit. Das Jahr ist 1953, in drei Jahren wirst du Polio haben und nie wieder tanzen. Also tanze, als wäre es so. Schreib, als würden sie alle Spiegel schwärzen und alles Bühnenlicht löschen. Mach es aus dem Gefühl, ganz Schwerkraft und Schweiß, drücke den Mittelfußknochen in den Satinschuh und beide fest in den Boden, mit dem gespaltenen Huf das Gleichgewicht suchend auf dem Rand eines Rechtecks, das in die offene Leere ragt.

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Du sollst nicht kneifen, nicht langweilig, unpolitisch und vage sein, nicht flüchtigen Launen und Trends hinterherhecheln. Mit Avantgarde hat das von Natur aus nichts zu tun. Auch mit Wiederverzauberung nicht, denn auch sie hat den Hauch von Gefahr. Silenus hat das Talent zur prophetischen Ekstase, von ihm borgt sich Schopenhauer die These, es sei besser, erst gar nicht geboren zu werden. Das Problem des Zuspätkommens ist freilich, dass man längst auf der Welt und ein siebzehnjähriges Mädchen gewesen ist; und kein Philosoph oder Halbgott kann das ungeschehen machen. Die Faune verbringen ihr Leben in Silenus’ Arkadien, zeitlos, friedliebend, betrunken – und sterben nie. Ich lebe in New York City, das immer zeitgemäß, niemals friedlich und nur manchmal betrunken ist. Ich stecke fest und versuche herauszukriegen, wie ich in dieser zu spät gekommenen Welt mein Metier ausüben kann: Kritik.

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In einer Artforum-Ausgabe von 1969 beschreibt die Kunstkritikerin Rosalind Krauss Motherwells Open-Gemälde als «torsion-without motion». Seine Rechtecke, so Krauss, zielten darauf den Betrachter neu auszurichten: nicht nur frontal auf die Leinwand zu, sondern vornüber gekippt oder seitlich verschoben oder geschwungen zu einem Développé.

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Ironischerweise sind viele der Meinung, Krauss, die sich als Kritikerin intensiv mit Theorie beschäftigte, sei zu intellektuell, um Gefühl zuzulassen. Theorie ist schwarze Magie. Mit Populismus und Empfindsamkeit auf den Fahnen können sich Rechte und Linke schnell darauf einigen, ihr den Garaus zu machen.

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Ich bin rundum einverstanden mit Rosalind Krauss’ Besprechung von Motherwells noch am Anfang stehender Open-Serie. Krauss hat die Fähigkeit, schwierige Gegenstände als das zu sehen, was sie sind: schwierig. Wenn ihr nach dem Gefühl im Kunstwerk sucht, solltet ihr fragen, ob ihr nicht eigentlich nach dem Ausbleiben von Schwierigkeit sucht. Wenn Theorie euch Angst macht, solltet ihr fragen, warum ihr eure Angst auf das Konzept eines Rahmens für das Denken projiziert. Könnt ihr einen Faun von einem Satyr unterscheiden? Nur einer von ihnen birgt Gefahr. Praktizieren wir schon den bestmöglichen kritischen Umgang mit ihr?

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Die Behauptung, dass Theorie oder theoretisch fundierte Kritik von Natur aus das Fühlen ausschließt, beruht auf einer falschen Dichotomie. «Theorie» ist ein Sündenbock für die Denkfaulen genau wie für die, die es eigentlich besser könnten, aber in ihr nichts als einen Personenkult sehen (was ein gänzlich anderer Einwand sein sollte). Jedenfalls sollten die Zeiten vorbei sein, da man Theorie nur mit Samthandschuhen anfassen konnte – aus Angst vor den blutgierigen Bacchantinnen, die man sich mit ihr ins Haus holt. Am Ende der Welt heißt es: Samthandschuhe aus!

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Schreiben, als ginge die Welt zu Ende, darf nicht bedeuten, den historischen und theoretischen Rahmen aufzugeben. Robbins’ Version von Afternoon of a Faun ist ein Meta-Ballett, ein Ballett über Training und Tanz im Studio. Dass wir das Stück heute als Teil eines reflexiven postmodernen Turns beschreiben können, liegt daran, dass wir eine Sprache dafür haben. Und das wiederum liegt daran, dass wir diese Sprache ausführlich theoretisiert haben.

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Johann Joachim Winckelmann, deutscher Kunsthistoriker im 18. Jahrhundert, hat eine verrückte Theorie über den Barberinischen Faun. In Anlehnung an seinen frühbyzantinischen Kollegen Prokopios von Caesarea spekuliert Winckelmann, dass die Statue im Jahr 537 n. Chr. von den Mauern des Hadrian-Mausoleums fiel oder vielmehr gestoßen wurde, um die in Rom einfallenden Goten zu erschrecken. Darum ist sie zerbrochen. Die Goten mögen wie das Ende der Welt erscheinen, aber in Wahrheit sind sie es nur, wenn man Edward Gibbon heißt. Für alle anderen hat die Spätantike ihre eigenen Reize: Faune, schlummernd in hyperbolischen Kurven; Wüstenväter, streng wie Quadrate, dieser strengsten Fassung des Rechtecks.

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Über den Rand von Motherwells Open 29, In Orange With Charcoal Line zu fallen – ein offenes Rechteck, das sich nicht einmal um die Vollendung seiner dritten Seite bemüht –, ist wie aus einer Drehung in Spitzenschuhen zu fallen. Jede Pirouette birgt ein kleines Risiko, man kann aus dem Gleichgewicht geraten, sich den Knöchel verstauchen, sich ein Körperteil verrenken, doch man hat keine Wahl. Park that car und fixier’ dein Standbein. Drop that phone, nimm den Arm nach oben. Sleep on the floor, und ziehe das Spielbein seitlich nach oben, bis zu einem Dreieck. Und dann, wenn du Glück hast (obwohl gute Technik hilft), kommt alles zusammen, und du schaffst deine Pirouette auf ein paar Zentimetern gepresstem Papier.

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Das orangefarbene Polymer auf Motherwells Leinwand ist wie das Orange, das bei der Hirschjagd getragen wird. Ich sehe toten Faun, aufgehängt an den Hinterläufen an einem Baum. Die gleiche Angst, die wahrscheinlich der Grund ist, warum ich nicht gut in Pirouetten bin. Es spielt sich zu viel im Kopf ab, und ich denke zu viel und bringe mich selbst aus dem Konzept. Kritik ist nicht ganz dasselbe, aber wie wäre es, wenn wir auch da etwas mehr unserem Gefühl folgten, uns ein klein wenig mehr auf das Muskelgedächtnis verließen, wenn wir zuschauen, lesen, einen Punkt landen wollen. Es hat etwas Bestimmt-Unbestimmtes, sich der Schwerkraft zu überlassen, dem historischen Bogen, der Goten mit Römern verbindet und im französischen Hof des 16. Jahrhunderts ausläuft, wo Ballett überhaupt erst erfunden wird.

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Ich folge der linken Seite der Kohlezeichnung in Open 29 über die orange Leinwand hinaus. Unbeirrbar vertikal schießt die Linie nach oben, hinein in die dünner werdende Luft, die Ozonschicht, den Weltraum, bis zu den Satelliten, die auf ihren Bahnen kreisen wie verlängerte archimedische Träume. Dass ich diese Weitung, dieses unabschließbare Développé vor meinem inneren Auge tatsächlich sehe, ist ein Beweis für die Wirksamkeit von Gefühl – aber wichtiger ist noch, dass es aus der Strenge und Tiefenschärfe von Motherwells Praxis und Denken kommt.

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Seid ihr bereit, die geschlossene Ebene zu verlassen? Über die letzte fehlende Seite des Rechtecks zu springen, wo die Kritik, wie wir sie kennen, in die Krise geraten ist? Dort an der trocken gelegten Quelle, den verdorrten Wurzeln, wartet kein heiliger Hain, aber im unsichtbaren Studiospiegel des Essays ist noch Wiederverzauberung möglich. Es ist unheimlich spät geworden da draußen, und wir stehen wacklig auf wie neuen Beinen. Selbst wenn sich unsere alten Geschichten einmal mehr um sich selbst winden, bleiben wir unser eigenes, direktes Publikum. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, wie das heute gehen soll: Kritikerin sein. Ich kann die Kritik nicht in Marmor meißeln, sie aushärten, beschleunigen, im Schlaf von der Mauer stoßen und dann in die Glyptothek. Aber wenn ich meinem Gefühl folge und das Gleichgewicht finde, meinen Kopf in die Drehung schicke und den Punkt lande – wirst du dich mitreißen lassen, nur für ein kurzes Stück? Mir eine Zeile leihen für meine vierte, verlorene Seite? Von mir träumen?

© A.V. Marraccini
Autore:
A.V. Marraccini ist Essayistin, Kunsthistorikerin und derzeit Critic-in-Residence am Institut für interdisziplinäre Medien der Tandon School of… [Mehr lesen]
traduttore:
Samir Sellami ist Gründungsredakteur der Berlin Review und lebt derzeit in Fortaleza, Brasilien. Sein Buch Hyperbolic Realism. A Wild Reading of… [Mehr lesen]