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Stets hat der blind Mordlustige im Opfer den Verfolger gesehen, von dem er verzweifelt sich zur Notwehr treiben ließ, und die mächtigsten Reiche haben den schwächsten Nachbarn als unerträgliche Bedrohung empfunden, ehe sie über ihn herfielen.
—Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung

Diesen Sommer habe ich zwei Monate als Fellow am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung (PRIF) in Frankfurt verbracht und war direkt neben der Goethe-Universität untergebracht. Wissenschaftliche Veranstaltungen und Termine führten mich regelmäßig durch die angrenzenden Parks zum attraktiven Campus Westend mit dem IG-Farben-Haus, einem imposanten Bauwerk, das der damals größte Chemie- und Pharmakonzern der Welt 1930 errichtet hatte. Berüchtigt ist die IG Farben für ihre Kollaboration mit dem Naziregime, unter anderem in Auschwitz, wo der Konzern Zyklon B lieferte und in einem gigantischen Werkslager Zwangsarbeiter einsetzte. Die US-Armee nutzte Gebäude und Gelände als Militärbasis, und nach dem Kalten Krieg gingen sie an die Universität über.

Schnell wurde deutlich, dass sich dieser Campus von vielen anderen deutschen Hochschulen unterscheidet. Überall finden sich Spuren der Frankfurter Schule der Kritischen Theorie – des berühmten Instituts für Sozialforschung: der Theodor-Adorno-Platz, ein gläserner Neubau für das wohl prestigeträchtigste Spin-off des Instituts, das Forschungszentrum Normative Ordnungen. Passenderweise ist seine Adresse die Max-Horkheimer-Straße 2, nur wenige Schritte vom Adorno-Denkmal entfernt, einem großen Glaskubus, in dem der imaginierte Schreibtisch des Philosophen steht.

Diese Anerkennung und Erinnerung tragen zur deutschen Rehabilitation nach dem Nationalsozialismus nicht durch Verdrängung bei, sondern durch ein aufpoliertes Erinnern: Eine Universität, deren zentrales Gebäude von einem Unternehmen errichtet wurde, das in die schlimmsten NS-Verbrechen verstrickt war, ehrt zwei jüdische Gelehrte, die zur Emigration gezwungen wurden – Horkheimer verlor damals seine Professur –, und die nach Frankfurt zurückkehrten, um ihre kritische Arbeit wiederaufzunehmen. Sie werden als Juden geehrt, nicht als Marxisten; nur jene Zuschreibung vermag die gewünschte Absolution zu leisten. Die Präsenz des jüdischen intellektuellen Erbes auf dem Campus verkörpert deutsche Identität nach dem Holocaust, indem sie eine moralisch tragfähige Universität ermöglicht. NS-Belastung und ihr Gegenbild teilen sich so denselben Raum, eine Spannung, die nur eine selbstbewusste normative Ordnung zu bewältigen vermag.

In den Bundestagsreden deutscher Politiker:innen anlässlich der jährlichen Feier zur Gründung Israels heißt es ausdrücklich: Angesichts des nationalsozialistischen Vernichtungsprojekts kann Deutschlands historische Aufgabe nur darin bestehen, die Wiederentstehung jüdischen Lebens in Deutschland und in Israel zu unterstützen. Mit Israels Freundschaftsgabe – und der Rückkehr Horkheimers und Adornos an die Universität – erhielt Deutschland mitsamt seinen Hochschulen eine zweite historische Chance auf der internationalen Bühne. Das Postulat der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Sicherheit Israels sei Teil der deutschen Staatsräson, bringt die wesentliche Rolle Israels für die Ermöglichung und Stabilisierung der bundesrepublikanischen Identität auf den Punkt.

Eine soziologische Untersuchung über das politische Bewusstsein Frankfurter Studenten

Diese Infrastruktur existierte zu großen Teilen noch nicht, als ich Ende der 1990er Jahre den alten Campus Bockenheim besuchte, um für meine Dissertation mit dem ehemaligen Direktor des Instituts für Sozialforschung Ludwig von Friedeburg (1923–2010) zu sprechen. Der Sohn des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine, selbst ehemaliger U-Boot-Kommandant, berichtete, er sei nach dem Krieg zur kritischen Sozialforschung gekommen, um seine Erlebnisse zu verstehen. Ich war damals nach Frankfurt gereist, um mit ihm über ein Buch zu sprechen, das er 1961 zusammen mit Jürgen Habermas und anderen veröffentlicht hatte: Student und Politik, eine Untersuchung, die die empirische Forschungslinie der ersten Generation Kritischer Theoretiker fortsetzte. Der Untertitel lautete: Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewußtsein Frankfurter Studenten. Die Autoren hatten Studierende befragt, um ihre demokratische politische Haltung zu überprüfen. Die Ergebnisse waren ernüchternd.

Die Autoren stellten fest, dass die Mehrheit der Studierenden, die während des Krieges geboren waren, keine besondere Bindung an die Demokratie hatte, und sie zweifelten, ob diese jungen Westdeutschen die republikanischen Institutionen verteidigen würden, falls erneut antidemokratische Kräfte erstarkten. Habermas bemerkte, viele Studierende hegten pragmatische, potenziell autoritäre Ansichten, die frei von utopischen Impulsen seien. Die Studierenden, so schloss von Friedeburg, hätten aus der NS-Erfahrung keinerlei Lehren gezogen; sie seien einem «Konsumzwang» ausgeliefert und würden von der «Kulturindustrie» eingelullt. Daher müsse Bildung einen «kritischen» Ansatz verfolgen, ein Projekt, das von Friedeburg in seiner Zeit als hessischer Kultusminister der SPD zwischen 1969 und 1974 umzusetzen versuchte, als er das dreigliedrige Schulsystem (Gymnasium, Realschule, Hauptschule) durch die Einführung von Gesamtschulen ergänzte.

Die Analyse stützte sich selbstverständlich auf Horkheimer und Adorno, vor allem auf Dialektik der Aufklärung (1944/1947) und The Authoritarian Personality (1950), eine mehrbändige empirische Untersuchung, die Adorno an der University of California, Berkeley, im Rahmen des Projekts «Studies in prejudice» begonnen hatte. Das Problem des westdeutschen Autoritarismus beschäftigte Habermas (seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre Adornos Assistent), von Friedeburg und ihre Mitstreiter – und auch ein weiteres ehemaliges Institutsmitglied, Franz L. Neumann (1900–1954), schrieb dazu in Demokratischer und autoritärer Staat (1957). Eine Welle antisemitischer Vorfälle in der Bundesrepublik, in Großbritannien und in den USA im Jahr 1959 sowie der wachsende Zulauf für rechtsextreme Politik beunruhigten Adorno zutiefst. Im selben Jahr wandte er sich im Radio mit dem Vortrag «Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit» an die Öffentlichkeit und wetterte gegen das weitverbreitete Bedürfnis, endlich «einen Schlußstrich» zu ziehen. «Der Nationalsozialismus lebt nach», ruft er in Erinnerung und meint, «verkappte faschistische Erneuerungen» würden «Krieg, Leiden und Mangel unter einem Zwangssystem» verursachen, wenn man sich mit den hinter dem Nationalsozialismus stehenden Kräften nicht auseinandersetze. Sechs Jahre später entfaltete er diese Gedanken in einem weiteren Radiovortrag unter dem Titel «Erziehung nach Auschwitz». Diese Texte sind in den Kanon der Bundesrepublik eingegangen und prägen seither die (Um-)Erziehung, mit der junge Deutsche gegen den Nationalsozialismus immunisiert werden sollen.

Die Dialektik der (Um-)Erziehung

An diese Essays erinnerte ich mich, als ich am Adorno-Denkmal, mittlerweile ein beliebter Treffpunkt, auf Kollegen wartete. Auf dem hinter Glas inszenierten Schreibtisch liegen die Spuren angestrengter Arbeit, als wäre der Philosoph nur kurz ins nahegelegene Restaurant Sturm und Drang gegangen. Was würde er mir sagen, fragte ich mich, wenn er jetzt hier säße? Wie würde er angesichts seiner eigenen Ambivalenz gegenüber der Studentenbewegung der späten 1960er Jahre die Reaktionen des Staats und der deutschen Universitäten auf die seit Ende 2023 andauernden propalästinensischen Studierendenproteste beurteilen? Was würde er zum israelischen Zerstörungskrieg in Gaza sagen und zur Staatsräson der deutschen Regierung, ihrem nahezu bedingungslosen Rückhalt für Israel? Diese Fragen stellen sich heute viele, und deshalb müssen wir uns genauer mit Adornos «Erziehung nach Auschwitz» befassen.

Vieles in diesem Text ist erwartungsgemäß gealtert, etwa seine starke Anlehnung an Freuds Das Unbehagen in der Kultur, womit er die wachsende gesellschaftliche Frustration als Ursprung faschistischer Potenziale erklärt. Hier zeigt sich Adornos Abneigung gegen plebejerhafte und «mobartige» Aktionen in der Gesellschaft: «Rowdys» unter den Bauern und Arbeitern sah er als ein großes Problem, er forderte sogar die «Entbarbarisierung des Landes». Zugleich ist vieles überraschend aktuell und erkenntnisreich. So sehr Adorno auch betonte, dass der Holocaust moralisch und historisch einzigartig sei, so wies er doch darauf hin, dass Barbarei – der altmodische Begriff, den er in der Tradition Rosa Luxemburgs verwendete («Sozialismus oder Barbarei?», fragte sie 1915 die Europäer) – weit über Auschwitz hinausging. Ihr Potenzial sei der bürgerlichen Zivilisation inhärent: daher die Dialektik der Aufklärung. Adorno schreibt, dass die Atombombe «in denselben geschichtlichen Zusammenhang hineingehört wie der Völkermord» und der Völkermord «seine Wurzel in jener Resurrektion des angriffslustigen Nationalismus [hat], die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Ländern sich zutrug». In seinen Vorlesungen des Vorjahres (Metaphysik: Begriff und Probleme) bezog er sich auch auf Vietnam. Gemeinsam bildeten sie eine «höllenhafte Einheit». Folgerichtig war Antisemitismus für ihn kein singuläres Ressentiment, sondern verbunden mit dem, was er und Horkheimer «Ticketmentalität» nannten: die Verknüpfung mit dem Hass auf andere Gruppen. Wie sie in der Dialektik der Aufklärung schrieben, sind die Opfer nicht nur austauschbar, sondern sie können selbst zu Tätern werden, sobald sie glauben, die Norm zu vertreten und durchsetzen zu können.

«Erst die Blindheit des Antisemitismus, seine Intentionslosigkeit, verleiht der Erklärung, er sei ein Ventil, ihr Maß an Wahrheit. Die Wut entlädt sich auf den, der auffällt ohne Schutz. Und wie die Opfer untereinander auswechselbar sind, je nach der Konstellation: Vagabunden, Juden, Protestanten, Katholiken, kann jedes von ihnen an Stelle der Mörder treten, in derselben blinden Lust des Totschlags, sobald es als die Norm sich mächtig fühlt.»

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In der Denkweise seines Freunds Walter Benjamin verstand Adorno die Nazibarbarei als ein vom Gesamtsystem ausgehendes Phänomen – als Teil einer einzigen historischen Katastrophe, die sich auf unterschiedliche Weise manifestierte. In diesem entscheidenden Punkt unterscheidet sich Adorno von der dominanten deutschen Sicht, die den Holocaust als gegenaufklärerisches Verbrechen auffasst, das allein durch Antisemitismus motiviert war – ein «Zivilisationsbruch», wie Dan Diner schreibt. Das würde implizieren, dass der Kampf gegen Antisemitismus allein die zentrale Lehre aus dem Nazigenozid wäre. Wird Adornos Position in den Dienst einer deutschen Ideologie der Holocaust-Singularität gestellt, wird dies der Komplexität und der aktuellen Dringlichkeit seiner Überlegungen nicht gerecht.

Ein neuer kategorischer Imperativ

In seiner Negativen Dialektik, ebenfalls 1966 erschienen, formulierte Adorno einen «neuen kategorischen Imperativ«: «die Gedanken und Handlungen so einzurichten, daß Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.» Gemeint war damit nicht nur der Holocaust, sondern das System, das «Konzentrationslager» hervorbringt und «Tortur als Dauerinstitution», so hatte er es seinen Studenten im Jahr zuvor erklärt. Dieses System produziert seither unaufhörlich Lager und institutionalisierte Folter – in Abu Ghraib, in Xinjiang, in Darfur und heute in Gaza. Diese Einsicht, von Theoretikern wie Zygmunt Bauman ausgearbeitet, inspirierte Jonathan Glazer zu seinem Film The Zone of Interest, der die willentliche Ignoranz ins Bild setzt, durch die Auschwitz erst möglich wurde.