Die Schweigeminute

Meine Stadt verändert sich im Laufe des Krieges. Als ob Kyjiw eine beschleunigte historische Transformation durchlebte. Jede Rückkehr lässt mich aufs Neue staunen. In den letzten Monaten überrascht sie vor allem mit dem Gefühl neuer Leere, neuer Abwesenheiten.

Weitere Freunde und Bekannte wurden mobilisiert, einige sind ausgereist oder planen ihre Abreise. Es gibt auch diejenigen, die bereit waren, ihr Leben zu riskieren, und die Grenze illegal überquerten, um nicht am Krieg teilnehmen zu müssen. Auf der Straße werde ich jenen nicht mehr begegnen, die in den Monaten meiner Abwesenheit gestorben sind. Unter ihnen sind einige meiner Freunde.

Das Gefühl der fortdauernden Entziehung, der schleichenden Zerstörung, es erscheint surreal. Es schmerzt allein schon deshalb, weil die Zerstörung nicht aufhört. Und weil die Aussicht auf weitere Zerstörungen auf eine Weise diskutiert wird, als handele es sich um konstruktive Maßnahmen, die irgendetwas retten könnten.

Bereits in den ersten Kriegsmonaten, als sich herausstellte, dass der ersehnte Frieden nicht kommen würde, entstand eine ihm entgegengesetzte Idee: das Konzept des «Aushaltens», der Unzerbrechlichkeit. Damit verbunden ist die widersprüchliche Vorstellung, dass der Krieg eine freie Entscheidung und zugleich unvermeidliche Notwendigkeit sei.

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Ich erinnere mich, wie ich im Mai 2022 nach einem Monat Abwesenheit nach Kyjiw zurückkehrte. Das Radio im Auto lief sehr laut. Eine fast ohrenbetäubende Frauenstimme schrie: «Guten Morgen, heldenhaftes Volk eines heldenhaften Landes! Wir wissen, wer wir sind. Wir lassen uns nicht brechen!» Es folgten Nachrichten, denen ich schon damals nicht uneingeschränkt vertrauen konnte. Die Stimme der Moderatorin, die ihre Angst so durch Wut äußerte, als würde sie eigentlich um Hilfe flehen, hallt noch immer in meinem Kopf nach. Ihre Intonation, schien mir, widerlegte ihre Aussage. Die ganze Stimmlage schrie mich an: «Sehen Sie denn nicht, dass man uns zwingt, Helden zu sein?»

Ein gegenwärtiges Echo dieser Stimme ist der Anrufbeantworter meines Mobilfunknetzes in der Ukraine. Wenn man jemanden anruft, der gerade telefoniert, ertönt die automatische Antwort: «Der Teilnehmer ist nicht erreichbar. Vielleicht bringt uns gerade dieses Gespräch dem Sieg näher.» Etwas Bedrohliches klingt in diesen Sätzen. Doch sie bleiben für mich zugleich rührend. Diese Gesellschaft sucht weiter nach Worten, die zum Symbol für Solidarität, Widerstand und Überleben werden können.

Dieses «Uns», dieses «Wir» soll ein Gefühl von Zusammengehörigkeit vermitteln, ein Gefühl für die Totalität des Krieges. Und dieser Krieg erobert weiterhin neue Bereiche des Alltags.