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Daniel DerondaGeorge Eliot
Oxford University Presssept. 2014 11 € 713 pp.

Daniel Deronda, George Eliots letzter Roman, 1876 erschienen und im selben Jahr schon ins Deutsche übersetzt, ist eine protozionistische Streitschrift. Das wird in der Rezeption oft als zeitgenössisches Kolorit abgetan. Was dabei übersehen wird, ist der westlich-moderne Nationalismus, aus dem dieser Protozionismus sich speist. Im Zuge des Nationenbauens dominiert in verspäteten Nationen wie Italien und Deutschland ein romantischer, essentialistischer Begriff des Nationalen. In ihm wird das Heil der Welt gesehen, die Zukunft, die Selbstbestimmung, die Identität eines Volkes, der Ausgang aus kultureller Fremdbestimmung und Fremdherrschaft, das Zu-sich-selbst-Kommen. Mit sich eins, man selbst, werde man nur in einer selbstbestimmten Nation. Fichtes Reden an die deutsche Nation beschworen das Identitär-Nationale im Geiste des deutschen Idealismus.

Auch der Protozionismus in Daniel Deronda speist sich weder aus der jüdischen Bibel noch aus der jüdischen Überlieferung, sondern aus der national-identitären, ethnonationalistischen Romantik des Westens. In dieser modernen, westlichen Tradition stehen Definition und Programm eines Judentums als Nation.

Zur Entstehungszeit des Romans wurden Überlegungen zu einem «Völkerfrühling» und damit die Frage der Nationengründung als Erneuerung und Regeneration breit diskutiert. Spätestens nachdem Italien 1859 Nationalstaat geworden war, sei es an der Zeit, auch die jüdische Kultur, die in der Diaspora endgültig absterbe, in einem eigenen Nationalstaat neu zu beleben. Dadurch würde auch der Adel des jüdischen Volkes, den Eliot mit Heine an seiner Leidensgeschichte festmacht, wieder erblühen, als Gegengewicht zur dekadenten englischen Aristokratie. In der Diaspora hingegen, im Exil verkümmere aller jüdische Adel zu Krämergeist.

Vor dem Hintergrund dieser Welle nationalstaatlicher Bestrebungen spielt alles Italienische im Roman eine zentrale Rolle: Auf Italien als sich formierende Nation nehmen sowohl Daniel Derondas Dantelied – Dante als italienischer Nationalheld ist wie so vieles eine Erfindung des 19. Jahrhunderts – als auch Mirahs Italienlied explizit politisch Bezug. Letzteres singt das von Daniel vor dem Selbstmord gerettete jüdische Mädchen auf Giacomo Leopardis Italia mia. Symbolischer geht es nicht.

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Gründungsträume

Die Juden müssen in Eliots Darstellung also zur Nation in einem Nationalstaat werden, aber das nicht allein, weil sie verfolgt, noch auch nur, weil sie stigmatisiert würden. Nur die Regenerationsverheißung durch Nationalbildung könne die in der Diaspora zerstreuten, im Exil von sich enfremdeten Juden zu einer lebendigen Volksgemeinschaft restaurieren. «The degraded and scorned of our race will learn to think of their sacred land, not as a place for saintly beggary to await in lonesome idleness, but as a republic where the Jewish spirit manifests itself in a new order», hofft Mordecai, jüdischer Intellektueller und Daniels spiritueller Mentor. Das Heilige Land vor Augen, würden sie ihre von Eliot ausführlich geschilderte Vulgarität, ihre Krämerseele und, in der schlimmsten Stufe, ihre Perversität zugunsten einer neuen, republikanischen Ordnung hinter sich lassen. Da im Konzert der Nationen jeder Nation eine Funktion zukommt, käme dies allen zugute. Darin liegt des Rätsels Lösung für Eliots Protozionismus: Weder schreibt sie im neopuritanischen Geist (nach dem vor der Erlösung die Rückkehr ins Gelobte Land kommen muss) noch aus missionarischem Eifer noch aus imperialem, machtpolitischem Kalkül (zur Erhaltung des Osmanischen Reiches erwog England einen jüdischen Außenposten Palästina), sondern in der Hoffnung auf Regeneration. Sie tut dies aus einem essentialistischen, ins Identitäre gesteigerten Nationalgedanken heraus, der sich als das wiedergefundene Urbild eines jeden Ethnonationalismus entpuppt.