Wenn es um das Erzählen von Krieg, Verlust und Zerstörung geht, hört man oft, die Funktion der Literatur wäre, zu erinnern und erinnernd zu bewahren, was andernfalls vergessen würde. Aber ist das wirklich das Wichtigste oder gar Einzige, was Literatur vermag? Wenn Zerstörung zum Paradigma wird, wenn kulturelle Identitäten erst verleugnet, dann angegriffen und schließlich ganz ausgelöscht werden, kommt Erinnerung als kulturelle Praxis dann nicht tragisch zu spät? Erkennt man die Zerstörung vielleicht sogar auf subtile Weise an, wenn man zu sehr darauf vertraut, nicht zu vergessen und nicht vergessen zu werden? Und was könnte generell schiefgehen, wenn man eine in privaten Gehirnen entwickelte Technik auf Gruppen, Communities und Gesellschaften hochskaliert?
Bei Yevgenia Belorusets hat das Dokumentarische einen hohen Stellenwert, und doch gehen mir solche Fragen nicht aus dem Kopf, wenn ich ihre Texte über die Ukraine lese. Zwar begegnet sie ihren Sujets – ganz gleich, ob es Menschen, Bilder, Gerüchte oder Nachrichtenmeldungen sind – mit jener diskreten Offenheit, die man von einer Ethnologin erwartet. Aber dann ist da immer auch noch etwas anderes in ihrem Schreiben, das sich mit der Aufzeichnung von Erlebnissen nicht zufriedengibt und eine andere Dimension der Darstellung sucht, nicht jenseits, sondern innerhalb des ruhigen, sachlichen Tons.
Nach ihren Reportagen über die frühe Kriegszeit, den «infrastrukturellen Krieg» um das Wasser in Mykolajiw und die Zwangsmobilisierung wehrpflichtiger Männer widmet Yevgenia sich in diesem Heft einem zentralen Motiv der ukrainischen Verteidigung: die Bereitschaft der Ukrainer:innen, koste es, was es wolle, den Krieg auszuhalten; ihre «heldenhafte», nie zur Disposition stehende «Unzerbrechlichkeit». Yevgenias subtile Kunst besteht darin, die Bruchstellen dieser Heldenerzählung hervortreten zu lassen – ohne sich die Auflösung des Widerspruchs anzumaßen, «dass der Krieg eine freie Entscheidung und zugleich unvermeidliche Notwendigkeit sei».
Was viele Beiträge dieses Heftes gegen die Dominanz des Erinnerungsdiskurses verbündet, ist ein gemeinsames Interesse an Fragen der Rekonstruktion. In einem Klima, das von «Zerstörungslust» geprägt ist – Jan-Werner Müller bespricht das so betitelte Buch von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey – gehen sie nicht davon aus, dass sich der Pegel an Destruktivität bald wieder senken könnte, auch dort nicht, wo die Waffen vorübergehend ruhen. An anderer Stelle führt diese Einsicht zu ohrenbetäubenden Appellen: Rückkehr zum Realismus, Verteidigung westlicher Werte, Kriegstüchtigkeit, mehr Härte nach außen und innen. Aufzuzeigen, dass solche Rhetorik den Anstiftern, zu denen man partout nicht zählen will, in die Hände spielt, ist ein halbwegs okayer Anfang. Wozu wir Sie mit diesem Heft aber einladen wollen, ist eine Erweiterung des zeitlichen wie intellektuellen Horizonts: Wie lässt sich ein Danach der Zerstörung begreifen, wenn diese noch in vollem Gange ist? Was gibt (empirische, poetische?) Zuversicht, wenn die moralische Insolvenz noch gar nicht erkannt, geschweige denn eingestanden ist?
Texte allein können solche Fragen nicht lösen, aber den Spielraum im Umgang mit ihnen vergrößern. So überlegt A. Dirk Moses aus der Enttäuschung über deutsche Erinnerungspolitik heraus, wie eine «Erziehung nach Gaza nach der Erziehung nach Auschwitz» aussehen könnte, die nicht einfach das selbstzentrierte Erbe der 68er fortsetzt. Die israelische Gesellschaft, so sieht es Omer Bartov, steht vor der noch dringenderen Herausforderung, ihre Verwicklung in einen Genozid anzuerkennen, bevor sie sich mit Erinnerungspolitik und pädagogischen Maßnahmen wird beschäftigen können. Didier Fassin setzt grundsätzlich an und fragt: Wie lassen sich die vielfältigen Spielarten, Gewalt zurückzuweisen, nicht nur passiv als Notwehr, sondern als Selbstverteidigung und Weltbezug rekonstruieren?
Eine ganz handfeste Rekonstruktion spielt sich ausgerechnet im fiktionalsten Text dieses Readers ab. «A yenta on her deathbed begins to look back at all her failures—including her child», so hat Jordy Rosenberg schon seit einiger Zeit seinen zweiten, im Frühjahr 2026 erscheinenden Roman angeteasert. Unsere daraus entnommene Erzählung Mein Leben, von Barbara Rosenberg lässt jene Yenta – von Milena Adam geschickt als «umtriebige Mutter» übersetzt – vom «Bett (bald: Sterbebett?)» aus den Moment wieder aufleben, in dem sie verstand, dass ihre «sogenannte Tochter» den Familienstammbaum nicht erweitern würde. Ein klassischer Fall für Erinnern-als-Bewahren, möchte man meinen. Doch das minutiöse Anhäufen von Details macht die Mutter verdächtigt, und man ahnt: Hier geht es gar nicht darum, ob ein Foto im Sarg war; hier geht’s um die Unmöglichkeit von Wiedergutmachung und einen letzten Versuch, so etwas wie Verbundensein doch noch herzustellen.
An der Schwelle zwischen Leben und Tod spielten Tezer Özlüs literarische Werke nicht erst zum Ende ihres Lebens, auch wenn es ein viel zu kurzes war; 1986 verstarb sie kaum vierzigjährig in Zürich. Bereits letztes Jahr erschien im Suhrkamp Verlag ihr im Original auf Deutsch geschriebenes Buch Suche nach den Spuren eines Selbstmordes; jetzt folgt der türkische Roman Die kalten Nächte der Kindheit, übersetzt von Deniz Utlu. Viel diskutiert haben wir in den letzten Tagen, wie man diese Werke charakterisieren und ankündigen könnte. Sind es Entwicklungs- oder Bildungs-, vielleicht sogar Kindheitsromane? Meditationen, Reiseerzählungen oder Totengespräche? Allein der Begriff Autofiktion fiel kein einziges Mal, und so ist es auch in Esra Akkayas Porträt der Schriftstellerin, das ganz ohne Labels auskommt. «Wenn wir gemeinsam handeln», schrieb Tezer Özlü aus Berlin an Leyla Erbil, «können wir vielleicht einige Wahrheiten schneller ans Licht bringen. » In einer Zeit, die entweder gar keine oder tagespolitische Ansprüche an das Schreiben stellt, interessieren wir uns für Literatur, die sowohl einer bloß abbildenden als auch einer rein selbstreferentiellen Sprachauffassung misstraut. Dass A.V. Marraccinis Epigramme, Miriam Stoneys Lyrikschau und Lauren Oylers posthedonistische Tagelieder an Spatien, Ballett, offenen Rechtecken und Ketamin andocken, tut ihrer Gegenwärtigkeit keinen Abbruch. Nicht alles, was relevant ist, muss von einer Welt handeln, die alle schon kennen.
Erinnerung als Ersatzhandlung, Aushalten um jeden Preis, Unzerbrechlichkeit, Resilienz, Wiedergutmachung, Autofiktion – hiermit wären einige Unwörter dieses Editorials benannt. Ein letztes, for the time being, könnte «Optimismus» sein. In Deutschland kennt man ihn als das, wovon wir ständig zu wenig haben, aber dringend mehr brauchen, um endlich wieder reich und mächtig zu werden. Die vor diesem Hintergrund überraschend wirkende Behauptung von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, im Westen habe «bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein (…) eine optimistische Grundstimmung geherrscht», hält unser Rezensent Jan-Werner Müller für wacklig und eine von vielen, letztlich zu vielen Ungereimtheiten des Buches. Die von Ulrich van Loyen gelesenen Debattentitel von Frank Trentmann und Dr. med. Thomas Bergner verschreiben den deutschen Blockaden eine harte – und hart auszuhaltende – Positivity-Kur; entsprechend knochig fällt Ulrichs Urteil aus. Bei Leif Randt wiederum, auf dessen affirmative Grundhaltung sich eigentlich alle einigen können, kommt die Gefahr von Optimismus erst gar nicht auf, weil die Figuren und die Erzählstimme jederzeit halbwegs okay mit der eigenen Unentspanntheit viben – Anja Kümmel hat seinen neuen Roman für uns gelesen.
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Wenn Optimismus keine Option ist, muss etwas anderes her, das der Zukunft eine Perspektive gibt. Zum Beispiel Bilder, in die man erst hineinwachsen muss, um sie zu verstehen. Wenige Künstler:innen der vergangenen Jahrzehnte schufen visuelle Leitlinien so beständig und klar wie Wolfgang Tillmans. Der Fotograf kennt meinen Mitherausgeber, seit dieser ihn kurz nach 2016 zu seinem persönlichen Stimmungswandel interviewte (Brexit, Trump, What Is Lost Is Lost Forever – wir erinnern uns und lesen in Tobias’ Text, warum das Verlorene vielleicht doch nicht ganz abzuschreiben ist). Dass Wolfgang in die Zusammenarbeit für unsere Bildstrecken eingewilligt hat, in einem Jahr, in dem er mit Ausstellungen im Centre Pompidou in Paris, dem Haus Cleff in seiner Geburtsstadt Remscheid, dem Dresdner Albertinum und auf der São Paulo Biennale selbst für seine Verhältnisse ungemein busy ist, bedeutet uns Ansporn und Freude zugleich.
Fortaleza, im Oktober 2025