Eine der häufigsten Behauptungen über unsere Gesellschaft ist, dass sie polarisiert sei. Rechts und links, autoritär und liberal, Stadt und Land, Ost und West, kosmopolitisch und patriotisch. Wer solche Gegensätze aufzählt, will meist zeigen, wie radikal zerstritten wir doch alle sind: Stadtbewohner müssen andere Einstellungen haben als Menschen auf dem Land, Autofahrer hassen Fahrradstreifen, Veganer können nicht mit Schweinebauern, autoritäres Denken steht dem liberalen entgegen. Pro-Palästina bedeutet anti- Israel, pro-Ukraine anti-Russland und so weiter. Rechts kann alles Mögliche sein, vor allem aber ist es: nicht links. Mischungen und Grautöne sind in diesem Denken nicht vorgesehen. Das Schema lautet innen oder außen, schwarz oder weiß.
In der Psychologie des Alltags haben binäre Ordnungen viele Vorteile. Die Welt in klare Alternativen einzuteilen, gibt Orientierung und schafft oft erst die Voraussetzung für bewusstes Handeln. Wer schon einmal versucht hat, Käufer für ein Produkt zu gewinnen, der kennt die erste Regel des Marketings: Mach dich unterscheidbar, zeige, was du alles nicht bist. Wer neue soziale Kontakte knüpfen will, kann dafür auf Apps zurückgreifen, die binäre Wahlentscheidungen am Fließband produzieren: swipe left, swipe right. Und in der Erziehung weiß man, dass sich der Status eines Kindes grundlegend verändert, sobald es in der Lage ist, sich bewusst für oder gegen Dinge zu entscheiden. Es wird dann zu einer handelnden Persönlichkeit, mit all den Phantasmen und Grübeleien, die das mit sich bringt. Binär formuliert sind ja nicht nur die banalen Probleme des Alltags, sondern auch Grundfragen der Philosophie: Sein oder Nichtsein ist die Frage von Ontologie und Existenzialismus, wahr oder falsch ist die Leitunterscheidung von Erkenntnistheorie und Logik, gut oder schlecht das Thema von Moralphilosophie und Ethik.
Je tiefer man jedoch in solche binären Schemata einsteigt, desto poröser werden sie. Das Innen wölbt sich ins Außen, Schwarz mischt sich mit Weiß. In der Aussagenlogik hält man sich seit Aristoteles an den Satz vom ausgeschlossenen Dritten: Entweder gilt eine Aussage oder es gilt ihr Gegenteil, etwas Drittes ist nicht vorgesehen. Ausgebildete Logiker wissen, dass man mit dieser Systematik bei vielen Fragestellungen nicht weit kommt. In der Modallogik wird deshalb mit der dreiwertigen Unterscheidung möglich / notwendig / kontingent gearbeitet, in der bayesianischen Logik, die für die statistischen Architekturen Künstlicher Intelligenz grundlegend ist, bilden nicht feste Wahrheitswerte, sondern Inferenzen und Wahrscheinlichkeiten die Grundlage. Auch die Quantenphysik kann ab einer gewissen Tiefenschärfe nicht mehr klar sagen, ob etwas ist oder nicht ist. Sie kann nur noch angeben, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Teilchen sich wann wo befindet. Elementarteilchen und damit die Bausteine der Materie selbst sind so gesehen nichtbinär.
Um dem binären Denken beim Scheitern zuzusehen, braucht es aber gar keine avancierte Wissenschaft. Es genügt ein Kinderspiel. Eins der einfachsten Aufsagespiele, das meinem Sohn irgendwann ab einem Alter von 5 oder 6 Jahren unheimlichen Spaß bereitete, ist das Gegenteil-Spiel, auch A-oder- B-Spiel genannt. Banane oder Apfel? Apfel. Bayern oder Real? Real. Und so weiter. Das Entscheiden an sich macht Spaß, auch die Geschwindigkeit, mit der man neue Paare finden oder zwischen ihnen wählen muss. Richtig lachen musste mein Sohn immer dann, wenn ich das Spiel ins Absurde driften ließ, indem ich Begriffe gegeneinander stellte, die in gar keinem sinnhaften Verhältnis zueinander stehen. Joghurt oder Autoreifen? Man erkennt die Absurdität des binären Denkens, aber auch seine Attraktivität: Das Spiel ist dort am unterhaltsamsten, wo es sinnfrei wird.
«Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien», hat ein einflussreicher deutscher Soziologe am Ende des vergangenen Jahrhunderts gesagt. Es ist fraglich, ob es Massenmedien im Sinne Niklas Luhmanns überhaupt noch gibt; sie sind ersetzt oder zumindest ergänzt worden durch personalisierte Feeds und soziale Medien. Weiterhin richtig ist aber, dass «wir» Fremdzuschrei- bungen brauchen, um zu verstehen, wer wir sind oder sein könnten. Die Polarisierungsthese ist ein gutes Stück performativ: Wer immerzu hört, dass die Gesellschaft in entgegengesetzte Lager zerfällt, der beginnt, sich selbst eins zu suchen. Die Rolle der Medien wandelt sich dann. Sie werden von Mitteln der Information zu Mitteln der Identifikation.
Die Sozialwissenschaft hat der Polarisierungsthese verschiedentlich widersprochen. Im deutschen Sprachraum war das Buch Triggerpunkte von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westhäuser (erschienen im vergangenen Oktober im Suhrkamp Verlag) der umfassendste Versuch, die Diagnose der gesellschaftlichen Spaltung zu verkomplizieren. Die drei Soziologen zeigen, dass öffentliche Debatten sich zwar immerzu um Gegensatzpaare drehen (wie man am A-oder-B-Spiel erkennt, kann dieser Zank geradezu süchtig machen), die allermeisten Menschen in Deutschland aber weiterhin auf Kompromisse und Verständigung setzen. Einem verhärteten Lager ordnen sie sich keinesfalls zu. Für zutreffender als die Metapher der Spaltung halten Mau, Lux und Westhäuser deshalb diejenige des «Triggerpunkts»: Erst wenn Diskussionen hypersensible, klar identifizierte Einzelfragen erreichen – Gendersternchen, Verbrennerverbot, Maskenpflicht usw. –, verlieren viele Menschen die Fassung und schalten auf Konfrontation. Der Diskurs wird unversöhnlich, die Lager schließen sich gegeneinander ab. Es geht also nicht wirklich ein tiefer Graben durch die Gesellschaft. Eher ähnelt sie einer Ansammlung von Trutzburgen, in die die Menschen flüchten, wenn sie durch bestimmte Reizwörter getriggert werden.
Auch wenn Massenmedien an Wirkmacht verloren haben, geben mediale Akteure wie Redaktionen, Agenturen und Influencer noch immer die groben Linien der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung vor. Sie beherrschen das Spiel mit den Triggerpunkten und wissen, welche Polaritäten sie wie zuspitzen müssen, um allergische (oder sagen wir: virale) Reaktionen zu erzeugen. Am bemerkenswertesten unter den eingangs genannten Gegensätzen erscheint mir derzeit jener zwischen autoritär und liberal. Er ist reflexiv in Bezug auf den Umgang mit Differenz selbst.
Autoritär und liberal sind zwei entgegengesetzte Einstellungen zum Phänomen der Ambivalenz. Autoritäre haben kein Problem damit, wenn das Zusammenleben zusehends von unversöhnlichen Gegensätzen geprägt ist. Für sie zerfällt die Welt sowieso in Freund oder Feind, und gegenüber dem Feind darf man sich keine Nachlässigkeit erlauben, denn von seinem Vernichtungswillen ist man überzeugt. Liberale hingegen müssen mit der Annahme arbeiten, dass sich nicht alle Konflikte auf ein binäres Freund-Feind-Schema reduzieren lassen, dass es auch andere, komplexere, vielschichtige Ordnungen gibt, auf die sich ein Gemeinwesen aufbauen lässt.Schwierig wird es für Liberale allerdings, wenn sie sich selbst als Zielscheibe autoritärer Angriffe erkennen. Dann stellt sich die Frage: Antwortest du auf die Konfrontation der anderen, die dich als Feind sehen und vernichten wollen, selbst mit einer Logik des binären Ausschlusses? Wie liberal kann der Liberalismus im Umgang mit seinen erklärten Feinden sein?
Die Coronapandemie, der Ukrainekrieg und der Krieg in Gaza waren die drei größten Ereignisse, die in diesem noch kurzen Jahrzehnt die Menschen so richtig durchgetriggert haben. Dazu kommt der ständig schwelende Klimanotstand. Alle vier Begebenheiten fordern die liberale Demokratie auf je unterschiedliche Weisen heraus. Noch gibt es eine breite Mehrheit, die auf liberale Prinzipien wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit, rechts- staatliche Verfahren und das Aushalten von Differenzen pocht. Aber das Zentrum wird gereizter. Die Gelassenheit ist weg, die Duldsamkeit lässt nach. Krittler und Kritiker werden schneller als vielleicht nötig als «Schwurbler» abgetan. Demonstrationen und Versammlungen werden verboten. Die Demokratie wähnt sich in Gefahr und betont, wehrhafter werden zu wollen. Die vielleicht wichtigste Unterscheidung für die nächsten Jahre wird sein, wie autoritär sie dabei vorgehen soll, und wie liberal sie bleiben kann.
Zu den Fotografien Maxime Verrets
Als tiefdunkler Schattenriss bildet die Cime du Gélas den Hochpunkt von Maxime Verrets Felsendiagrammen. Mit 3.143 Metern ist sie einer der Gipfel der Seealpen, kaum 80 Kilometer von der ligurischen Küste entfernt. Dort stürzen die Berge so abrupt ins Meer, als bilde der Fels ein Kontinuum, dem je nach Höhenlage eine radikal andere Bedeutung zukommt. Kontrastschärfung und Überbelichtung sind Mittel, um die Natur in einen Zustand zurückzuwerfen, der ihr vorausging: Abstraktion. Ähnlich ist es mit unseren sozialen Wahrheiten. Sie sind weder scharfkantig-artifiziell noch flächig-natürlich, sondern eine präzise Abfolge von Schattenwürfen, deren Urheber niemand anderes ist als unser eigener Blick.
Die gesamte Fotoserie «Felsendiagramme» finden Sie in Berlin Review Reader 1.
Bildverzeichnis
Bric de Rubren, 2021, aus der Reihe «Cimes hypnotiques»
Route de Combe Laval, 2022, aus der Reihe «Infrastructures»
Valle Gesso, 2023, aus der Reihe «Cimes hypnotiques»
Route de Peille, 2023, aus der Reihe «Infrastructures»
Col de Vallonpierre, 2021, aus der Reihe «Cimes hypnotiques»
Gorges de la Bourne, 2021, aus der Reihe «Infrastructures»
Cime de Cessole, 2023, aus der Reihe «Cimes hypnotiques»
Villa Glovettes, 2022, aus der Reihe «Infrastructures»