Ohne Geländer lässt sich kaum denken. Genau das aber scheint eine chaotisch gewordene Welt von uns zu verlangen, die fragt: Was passiert, wenn die globalen Machtverhältnisse sich so sehr verändern, dass die gewohnten Erklärungsraster über den Verlauf der Geschichte ins Leere greifen? Wer sich mit einer solchen Frage konfrontiert sieht, kann auf zweierlei Weise antworten. Entweder man trotzt der Außenwelt und verteidigt die zum Selbstbild gewordenen Erzählungen gegen neue, sich noch ausformende Realitäten. Oder aber man legt alte Erkenntnismuster ab und tastet sich zu neuen Haltepunkten vor.
Vor dieser Wahl stehen heute diejenigen, die die westliche und damit auch deutsche Meistererzählung des liberalen Triumphzuges gegen seine Antagonisten internalisiert haben. Wenn wir diese Erzählung im letzten Jahrhundert beginnen lassen, dann geht sie etwa so: Die liberalen Demokratien gewannen, in temporärer Zweckallianz mit der Sowjetunion, den Kampf gegen Nationalsozialismus und Faschismus im Zweiten Weltkrieg. Die beiden Kriegsgewinner standen sich anschließend im Kalten Krieg gegenüber, in welchem das geläuterte Westdeutschland sich auf die richtige Seite stellte. Mit dem Fall des Kommunismus schien die Geschichte als Ganze zu Ende erzählt. Die ideologischen Großkonfrontationen, Religionskriege des säkularen Zeitalters, waren ausgekämpft. Deutschland, schwankende Gestalt, auferstanden aus tiefster Sünde, kam nach langem Wege geeint im Westen an und richtete sich bequemer ein als andere im Ende der Geschichte. Dass die Geschichte nun doch nicht vorbei ist, ist mittlerweile fast so sehr zu einem Klischee geworden wie die auf Francis Fukuyama zurückgehende These vom Ende der Geschichte selbst.
Fukuyama war Ende der 1980er Jahre ein der Öffentlichkeit unbekannter Beamter im State Department, dem Außenministerium der USA. Im Sommer 1989, kurz vor dem Berliner Mauerfall, schrieb er einen Artikel, der ihn über Nacht berühmt machen sollte. Unter Rückgriff auf die Geschichtsphilosophie des deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel argumentierte Fukuyama, dass mit dem marktwirtschaftlichen und demokratischen Nationalstaat das bestmögliche Modell des politischen Zusammenlebens gefunden worden sei. Deswegen bestünde auch keine Notwendigkeit mehr, sich über die Art und Weise des menschlichen Zusammenlebens auf fundamentale Weise zu streiten. Wenn die Geschichte auserzählt ist, muss man über ihren Verlauf auch keine Kriege mehr führen.
Vom Ende des Endes der Geschichte
Das Ende vom Ende der Geschichte hat kein genaues Datum. Es fällt irgendwo in unsere Gegenwart. Eingeleitet wurde es von den Terroranschlägen auf die USA am 11. September 2001 und den anschließenden Kriegen im Nahen Osten. Diese Kriege scheiterten nicht nur daran, aus Ländern wie Afghanistan und Irak liberale Demokratien nach eigenem Bilde zu machen. Auch legten sie, erneut, doch nicht zum letzten Mal, einen Graben zwischen liberalem Selbstbild und zerstörerischer außenpolitischer Realität offen. In wirtschaftlicher Hinsicht sank der westliche Stern um dieselbe Zeit. Die Finanzkrise von 2008 führte in eine Rezession, die die alten Ökonomien des Westens stärker traf als die der aufsteigenden Länder. Westliche Wachstumsraten konnten nicht mehr an ihr Vorkrisenniveau anknüpfen, während jene der Entwicklungsländer hoch blieben. Seitdem sinkt der westliche Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung kontinuierlich.
Ein jüngeres Datum für den westlichen Machtverlust ist der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022, auch wenn es sich zunächst gar nicht danach anfühlte. Es war ein Angriff, der die europäische Ordnung nach dem Kalten Krieg zwar endgültig zerschoss, doch den wehrhaften Liberalismus vorübergehend revitalisierte, ihm vielleicht so etwas wie seinen letzten Hurra- Moment bescherte. Das schon totgesagte westliche Militärbündnis der NATO gewann mit Schweden und Finnland neue Mitglieder hinzu. Die ukrainische Widerstandsfähigkeit und anfängliche Felderfolge überzeugten sogar die Zweifler im damaligen Kanzleramt, dass es nicht nur wünschenswert, sondern auch möglich sei, den russischen Angreifer zurückzuschlagen. Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke schrieb nach einem Jahr Krieg in einem Zeitungsbeitrag: «Die imperial nostalgia, die man den russischen Machteliten nachsagt, trifft auf der Gegenseite auf eine eigene, ihrer selbst noch nicht vollständig bewusste Art von Nostalgie. Sie richtet sich auf die vergangene Zukunft des Liberalismus als Weltmodell und universale Doktrin.»
Der von Fukuyama vor über dreißig Jahren konstatierte Geschichtserfolg des liberalen Modells – sollte er sich dank der Ukraine doch noch realisieren? Befeuert von einem Kriegspathos, das nur der Platz auf der Zuschauerbank erlaubt, sah man in London, Brüssel und im Washington von Joe Biden beinahe schon dem Ende Putins entgegen, doch bemerkte dabei kaum, dass man sich mit dieser Wahrnehmung in einer globalen Minderheit befand. Der eigene moralisch begründete Weltordnungsanspruch deckte sich nicht mehr mit den entsprechenden Fähigkeiten.
Erzählt wurde der Verteidigungskampf der Ukraine von westlicher Seite dabei weniger als das, was er ist, nämlich ein Ringen um staatliche und nationale Souveränität gegen einen imperialistischen Aggressor – eine Interpretation, die auch außerhalb der westlichen Weltminderheit für mehr Anklang gesorgt hätte –, sondern, im Sinne der gerade erwähnten liberalen Meistererzählung, als Kampf für die Demokratie gegen Diktatur und Unterdrückung. Gewissermaßen holten vergangene Sünden den Westen hier ein. Denn die USA konnten sich schwerlich auf die Charta der Vereinten Nationen stützen, deren zentrales Nichtangriffsgebot Russland so eklatant verletzt, hatten sich die USA doch selbst mehrfach über dieses Gebot hinweggesetzt, mit Folgen im Nahen Osten bis heute.
Ein großer Teil der nichtwestlichen Weltmehrheit verurteilte den russischen Völkerrechtsbruch zwar per Votum in der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Doch an den Sanktionen gegen Russland oder an Waffenlieferungen für die Ukraine beteiligen sich seither nur diejenigen Staaten, die man gemeinhin zum Westen zählt. Vor zwanzig Jahren, vielleicht weniger, hätte dies womöglich ausgereicht, um Russland in die Knie zu zwingen. Heute hat Russland vor allem in China und Indien, aber auch in Brasilien, Südafrika und anderen Ländern wirtschaftliche und politische Alternativangebote.
Dass die westliche Sanktionspolitik insgesamt als gescheitert gilt, ist nur einer von vielen Indikatoren für einen Prozess, den auch die eben genannten Länder als «Multipolarisierung» der Weltordnung bezeichnen. Gemeint ist damit ein lautes Nein zu westlicher Vorherrschaft und ein Eintreten für eine Welt mit mehreren und alternativen Machtzentren. Gleichzeitig polarisiert der Begriff der Multipolarität innerhalb der politischen Debatte. Nicht wenige nutzen ihn als antiwestlichen Kampfbegriff, weswegen prowestliche Dominanzverteidiger in ihm vor allem eine abzuwehrende Drohgebärde sehen.
Es ist wahr, dass die russische Regierung versucht, ihren Krieg gegen die Ukraine als einen Krieg für eine multipolare Ordnung zu legitimieren. Die historische Tendenz zu einer weniger westlichen Welt geht jedoch über das Machtstreben eines Wladimir Putin weit hinaus. Es handelt sich um eine Geschichtsbewegung, die Putin für seine Zwecke lediglich auszunutzen weiß. Dass eine Welt nach dem Westen sich ausformt, ist deswegen vor allem ein möglichst nüchtern zu observierender Fakt. Ein Fakt, gegenüber dem Europa und Deutschland ihre Politik ausrichten sollten. Ob diese Welt eine sein wird, vor der man sich zu fürchten hat, ist dabei, wie so oft, eine Frage der Perspektive. Vor 1914 war Europa ein multipolares Staatensystem. Das Scheitern dieses Systems führte in den Ersten Weltkrieg. Das ist der wesentliche Grund dafür, warum das Wort «Multipolarität» in Europa wie eine unheilvolle Drohung klingt. An Orten der Welt, die mit westlicher Dominanz andere Geschichts- und Gegenwartserfahrungen verbinden, ist das anders.
Beinahe schon spiegelbildlich zum russischen Einmarsch in die Ukraine ordnen sich die globalen Positionen seit dem 7. Oktober 2023 zum westlichen Menetekel von Gaza. Nach dem Angriff der Hamas auf Israel waren es vor allem die USA, gefolgt von der Bundesrepublik und Großbritannien, die Israels Krieg in Gaza durch Waffenlieferungen und diplomatischen Rückhalt unterstützten. Die Zerstörung Gazas und seiner Gesellschaft ist eine Wirklichkeit, der sich die deutsche Öffentlichkeit lange entzog, doch zu der die Bundesregierung das Ihre beigetragen hat. Vielleicht ist diese Zerstörung das, was der Westen der Welt nach seinem Abgesang hinterlässt. Alex Lo, langjähriger Kolumnist der Hongkonger Zeitung South China Morning Post, schrieb dazu im Mai 2025 in fast schon triumphierendem Tonfall, dass die westliche Welt in Gaza auch ihr eigenes Grab gegraben hätte. Zwar würde der Westen als geografischer und politischer Teil der Welt noch weiter existieren. Als moralisches Ideal sei er jedoch gestorben – und das ohne das Zutun von Xi Jinping oder Wladimir Putin, die das Ende der westlich dominierten Ordnung begrüßten.
Donald Trump und die gefühlte neue Einsamkeit
In Deutschland wird das Ende dieser Ordnung vor allem mit einem Namen verbunden: Donald Trump. Für die deutsche Öffentlichkeit war die Wiederwahl Trumps zum Präsidenten der USA im Herbst 2024 ein Schock. Danach wurde in den Zeitungen lautstark das Ende des Westens verkündet, zumindest in der Form, wie wir ihn kannten. Deutschland und Europa, war man sich einig, müssten nun alleine bestehen können. Der wenige Monate nach Trump gewählte Bundeskanzler Friedrich Merz verkündete in der traditionellen Elefantenrunde nach der Wahl, dass die Zeit außenpolitischer Abhängigkeit von den USA vorüber sei. Für einen flüchtigen Moment klang der gestandene Transatlantiker Merz wie der französische General Charles de Gaulle, der für das Nachkriegseuropa schon früh eine eigenständige weltpolitische Rolle gefordert hatte. Was man zuvor nur am linken oder rechten Ende des politischen Spektrums in Deutschland gehört hatte, nämlich, dass Deutschland in außen- und sicherheitspolitischen Fragen weniger souverän war, als es sich gab, ist aufgrund von Donald Trump über Nacht zur Mehrheitsmeinung geworden.
Mehr als anderswo hatte man sich in der Bundesrepublik an den USA als Leitstern orientiert, denen man seine Gründung und Eingliederung in den Westen nach dem Zweiten Weltkrieg verdankte. Mit der zweiten Amtszeit von Donald Trump macht sich die Einsicht breit, dass Deutschland und Europa in einer sich neuordnenden Welt stärker auf sich allein gestellt sein werden. Das kann Angst machen. Aber es bietet eine Chance. Nämlich die, seine eigene Rolle zu überdenken und nach einer neuen zu suchen, die der eigenen Machtposition angemessener ist. Vielleicht könnte es sich dabei sogar um eine Rolle handeln, in der man die liberalen und menschenrechtlichen Werte, die man vor sich herträgt, mit größerer Glaubwürdigkeit vertritt. Noch deutet wenig darauf hin.
MAGA: Magie und Megalomanie
Was bedeutet Donald Trump für den Westen – und was erklärt seine Machtübernahme in den USA? In einem seiner letzten Interviews wurde der 2023 verstorbene Henry Kissinger zu Donald Trump befragt. Kissinger, der seit seinem Wirken als Sicherheitsberater Richard Nixons während des Vietnamkriegs als großer Geostratege, Kriegsverbrecher oder beides galt, antwortete im Juli 2018 in der Financial Times, dass Trump eine jener historischen Figuren sei, die mit der Scheinheiligkeit und den falschen Gewissheiten ihrer Zeit aufräumten und das Ende einer Epoche markierten. Das müsse nicht bedeuten, so Kissinger, dass Trump eine Alternative zur alten Ordnung anzubieten hätte oder sich seiner historischen Rolle überhaupt bewusst sei. Es könnte auch alles ein Unfall sein.
Trump als geschichtsgesandter Meister des Chaos und der Erneuerung? Es stimmt, dass er die unglaubwürdig gewordenen Versprechen der liberalen Ordnung zu begraben weiß. Auf das gebrochene Wohlstandsversprechen globalisierter Marktwirtschaft antwortet er mit Zöllen. Auf die Scheinheiligkeit westlicher Außenpolitik antwortet er, indem er das Recht des Stärkeren und eng verstandenes Eigeninteresse primär setzt. Er nimmt der westlichen Rolle in der Welt damit nicht nur den Schein, sondern auch den Anspruch auf Heiligkeit. Anders formuliert: Donald Trump löst das Problem außenpolitischer Doppelmoral, indem er dieser Außenpolitik die Moral gleich ganz wegnimmt. Das kann eine friedensstiftende Wirkung haben. Denn Kriege werden gerne von jenen angefangen, die von sich glauben, eine höhere Moral zu vertreten.
Innen- und außenpolitisch macht Trump sich kritikresistent, weil er an keine höheren Werte mehr appelliert, an denen er gemessen werden kann. Trump ist ein Lügner, aber ein ehrlicher, weil alle inklusive ihm wissen, dass er lügt. Ironischerweise mag er dadurch glaubwürdiger wirken als manche seine Vorgänger, was ein nicht unwesentlicher Grund für seinen Wahlerfolg sein dürfte. Von alten Illusionen entkleidet, ist die Politik von Donald Trump doch mit neuem Wahnsinn versehen. MAGA – Make America Great Again – ist ein Kürzel, in dem sich sowohl das magische wie megalomanische Denken des Trumpismus ausdrückt, jene Mischung aus showmanship, Brutalität und Nullkooperation aus der Welt des Wrestlings und des Kampfsports. Trump ist Mythos und Abrissbirne, eine amerikanische Fantasie, falscher Prophet und Comic-Held in einem.
Wer in Deutschland heute noch darauf hofft, dass auf vier Jahre Trump wieder ein Joe-Biden-Äquivalent ins Weiße Haus folgt, verkennt, dass auch unter der Demokratischen Partei die marktliberale Globalisierung nicht mehr das Regierungsmodell und Europa auf der amerikanischen Prioritätenliste nach unten gerutscht war. Auf Trump I (2017–2021) folgte mit Joe Biden ein Präsident, der die Politik seines Amtsvorgängers in wichtigen Punkten fortsetzte. Ein Punkt nimmt auf der weltwirtschaftlichen Landkarte und in den Vorstellungen der Politikgestalter in Washington viel Raum ein: China. In seiner Kongressrede nach den ersten einhundert Tagen Amtszeit im April 2021 verkündete Joe Biden, dass man sich mit China in einem «Wettbewerb um das 21. Jahrhundert» befände. Zu diesem Zweck setzte seine Administration die Strafzölle gegen China fort, die Donald Trump zuvor erlassen hatte. Hinzu kamen industriepolitische Maßnahmen wie beispielsweise der CHIPS Act oder der Inflation Reduction Act, die sich als Versuche verstehen lassen, der amerikanischen working class den hegemonialen Wettbewerb mit China als Reindustrialisierung des Landes zu verkaufen, während man gleichzeitig versucht, chinesisches Wachstum in Hochtechnologiesektoren einzudämmen.
Während der zweiten Amtszeit von Donald Trump eskaliert die unter Joe Biden verschärfte Wirtschaftsrivalität mit China im Rahmen eines Zollkriegs, dessen Ausgang noch unbestimmt ist. Festhalten aber kann man, dass es seit 2016 eine hervorstechende Kontinuität während der wechselnden Amtszeiten von Trump zu Biden und zurück zu Trump gibt. Sie besteht in dem Versuch, den Aufstieg Chinas zu begrenzen und die dominante Position der USA zu verteidigen. Dem ordnen sich andere Ziele und Beziehungen, wie die zu Europa, unter. Der öffentlichkeitswirksame Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, der unter US‑Demokraten viel Gehör findet, geht in diesem Zusammenhang mit der Außen- und Wirtschaftspolitik Joe Bidens hart ins Gericht. Es handele sich dabei um «MAGA für denkende Menschen», um einen Trumpismus für Großstädter, schrieb er im Oktober 2024 im Guardian. Zwar stimmt es, dass bereits der vormalige Präsident Barack Obama eine «Wende nach Asien» verkündet hatte. Doch damals schien das amerikanisch-chinesische Verhältnis im Vergleich zu heute geradezu freundlich. Die aktuelle Großmachtrivalität zwischen den USA und China ist der Konflikt, der vor allen anderen darüber bestimmt, wie eine Welt nach dem Westen aussehen wird – und wie friedlich der Weg zu einer solchen Welt verläuft.
Hinter Donald Trumps Wahlslogan America First steckt die Idee, dass die von den USA aufrechterhaltene internationale Ordnung ihrem Garanten mehr Kosten als Nutzen eingebracht hat. Der amtierende indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar formuliert es so: Die USA sind ein Imperium, das wieder lernt, wie eine Nation zu denken. Die Formel weist in die richtige Richtung. Doch America First bedeutet auch, dass ein sich stärker national verstehendes Amerika seine Vormachtstellung nicht einfach aufgeben wird. Vielleicht sollte man deshalb vorerst von einer Schrumpfung oder Verschlankung des imperialen Modells reden. Denn die militärische Dominanz der USA ist unverändert und der Dollar immer noch die Leitwährung. Letztere sichert den USA bislang noch eine privilegierte Position im Weltmarkt und auf den Finanzmärkten. Für eine Schrumpfung spricht dagegen nicht nur, dass vormalige Allianzen abgeschwächt werden, sondern auch, dass die soft power abgebaut wird. Beispielsweise wurden der staatlichen Entwicklungshilfeorganisation USAID oder dem Radiosender Voice of America gleich zu Anfang von Trumps zweiter Amtszeit die Gelder gestrichen.
Die Dekolonisation als Motiv unserer Zeit
Es gibt einen Namengebungswettbewerb: Wie soll man das Chaos des Interregnums nennen, in dem die Phase westlicher Dominanz vorbei zu sein scheint, sich eine neue Ordnung aber noch im Werden befindet? An dieser Stelle darf ein abgenutztes Zitat nicht fehlen, das dem marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci zugeschrieben wird: «Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.» Das Zitat verdeutlicht, dass Übergangsphasen gefährlich sind. In ihnen ist die Kriegsgefahr am größten.
Die Transition von einer westlich dominierten hin zu einer aufgeteilten Welt ist das eine. Doch in die Umbrüche des Augenblicks mischt sich mehr. Eine planetare ökologische Krise, die Angst vor atomarer Eskalation, globale demografische Umbrüche, Wohlstandsverlust, Migrationsfragen und, im Westen, eine sich durch das politische Spektrum ziehende Zukunftslosigkeit. Der bereits zitierte Adam Tooze hat für den aktuellen Moment die Rede von der «Polykrise» geprägt. Gemeint ist damit eine multiple Krisensituation, die von einzelnen politischen Akteuren kaum noch übersehbar, geschweige denn steuerbar ist.
Der aus Indien stammende und in London arbeitende Autor Pankaj Mishra hingegen schreibt, dass unser gegenwärtiger Moment ein Dekolonisationsmoment ist. Welche andere Rahmung, welches andere Leitwort ist in der Lage, so disparat wirkende Phänomene wie die Tendenz zur Deglobalisierung, den Aufstieg neurechter Parteien, den chinesischen Nationalismus oder die Beliebtheit koreanischer Serien und Boybands im Westen zu erfassen? Das globale Auseinanderfallen über den Krieg in Gaza oder der Ukraine? Den strukturellen Abstieg Deutschlands als Industriemacht? Wie jede andere narrative Formgebung, innere Weltzusammenfügung, fasst auch diese nicht alles, sind andere Begriffe und Metaphern möglich. Und doch bleibt, wenn man das konzeptuelle Netz der Dekolonisation in den Strom der Geschichte stellt, mehr Erkenntnis hängen.
Mit Dekolonisation ist dabei einerseits die Bewegung hin zu einer weniger westlich dominierten Welt gemeint. Andererseits bedeutet Dekolonisation auch Nationalismus, Ausschluss und neue Formen der Herrschaft. Der Begriff der Dekolonisation ist irrtümlicherweise links besetzt. Bei genauerem Hinsehen steckt im postkolonialen Denken aber auch ein potentiell rechtes: Die Verteidigung des vermeintlich Eigenen gegen das Fremde, das darin sich offenbarende Beharren auf Reinheit. Die Dekolonisation fasst die Mehrdeutigkeit unserer Zeit und die Neuordnung auch der politischen Positionen. Dieser vielumkämpfte Begriff kann als ergebnisoffene, vielleicht auch nur vorläufige Denkstütze dienen, um die Welt nach dem Westen zu erkunden.
Improvise or Die
Die liberale Meistererzählung hat sich erschöpft. Wir brauchen neue Geschichten über die Vergangenheit, um uns eine lebbare Zukunft überhaupt vorstellen zu können – und an ihrer Realisierung zu arbeiten. Die neue Welt dringt schemenhaft aus dem Nebel. Wir können tastend nach ihr greifen. Darum geht es in meinem Buch Die Welt nach dem Westen.
Viel einfacher wäre es, an Ideologien weiter zu stricken, die irgendwann einmal Theorien mit Erklärungskraft gewesen sein mochten. Doch würde dies nur zu einer Verzögerung des Zusammenpralls insbesondere der europäischen Selbsttäuschung mit der Realität führen, der dann umso heftiger ausfiele. Es ist ein Fehler, sich in die Gewänder des letzten oder vorletzten Jahrhunderts zu kleiden, um die Kämpfe des heutigen auszufechten. Die Klamotten eines deutschen oder britischen Imperialisten, der einer unterworfenen Welt seine Produkte und Gedanken aufdrückt, passen zwar längst nicht mehr, ganz aus der Mode gekommen sind sie aber nicht. Umgekehrt nützt es ebenso wenig, alte anti-imperialistische Banner in einer Gegenwart hissen zu wollen, in der zwar immer noch klar ist, wo die Peripherien sind, das Zentrum sich aber weniger leicht lokalisieren lässt.
Im Verzicht auf historische Kostümierungen liegt der Versuch, das Umbruchschaos der Gegenwart auszuhalten und die Gefahr des Zusammenbruchs ernst zu nehmen, die ein nihilistisches Zeitalter uns offenbaren. In gewisser Hinsicht ist dies das Gegenteil von wissenschaftlicher Arbeit. So wird in der Politikwissenschaft das chaotische Äußere über Theorie und historischen Vergleich erfasst, um daraus so etwas wie plausible Welterklärung und gedankliche Ordnung entstehen zu lassen. Wer gegenwärtig Ordnung schaffen will, muss allerdings zuerst das Chaos zulassen. Der Versuch, ganz in einer chaotischen Gegenwart zu sein, in der sich die historischen Leitfäden des letzten Jahrhunderts in Luft auflösen, wird damit auch zu einem eigentlich künstlerischen.
Redaktionell bearbeiteter Vorabdruck aus Daniel Marwecki, «Die Welt nach dem Westen: Über die Neuordnung der Macht im 21. Jahrhundert», das am 13. Oktober 2025 im Ch.Links Verlag erscheint.