Es war surreal. Es war auch bezeichnend. Und dann nahm es eine Wendung ins Sentimentale. Die russisch-amerikanische Journalist:in und Schriftsteller:in Masha Gessen wurde mit dem renommierten Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken ausgezeichnet. Doch die Preisverleihung, die eigentlich eine große Feier der Heinrich-Böll-Stiftung im Bremer Rathaus werden sollte, wäre beinahe abgesagt worden, nachdem Gessen im New Yorker einen Aufsatz veröffentlicht hatte, der den Gazastreifen vor dem 7. Oktober mit den jüdischen Ghettos im von Nazideutschland besetzten Europa verglich. Der Vergleich, schrieb Gessen, «hätte uns auch die Sprache gegeben, um zu beschreiben, was jetzt in Gaza passiert. Das Ghetto wird liquidiert.»

Die Feier fand dann nicht im Rathaus statt, sondern in einer kleinen Räumlichkeit fernab vom Stadtzentrum im Beisein von drei Dutzend Menschen und in einer Atmosphäre, die an die Untergrundversammlungen sowjetischer Dissidenten in den 1970ern erinnerte. Für Masha Gessen mochte es sich wie eine Zeitreise angefühlt haben, wie die Rückkehr in eine sowjetische Kindheit. Anderen erlebten es vielleicht wie eine ungewollte Reise in die Zukunft.

Gessens Rede war bewegend und reflektiert. Jeder Vergleich sei auch eine Warnung, sagte die Autor:in, und bestand auf der Notwendigkeit politisch inkorrekter und unbequemer Vergleiche. Beim Vergleich von Gaza mit einem jüdischen Ghetto unter den Nazis (oder von Trump mit Putin), ist sich Gessen der Unterschiede bewusst. Die Funktion solcher Parallelen ist, uns davor zu warnen, wie falsch Dinge ausgehen können. Gaza könnte auf jene Weise enden, Trump auf diese. Das vorwiegend aus alternden Arendt-Bewunderern bestehende Publikum war sich darüber bewusst, dass die Namensgeberin den Hannah-Arendt-Preis im heutigen kulturellen Klima nie erhalten würde, und verstand die schmerzhaften Vorwarnungen.

Das Geheimnis des «Gessen-Skandals» und seine Relevanz für den vieldiskutierten Zusammenbruch der liberalen Weltordnung besteht darin, wie sehr so viele Kommentatoren missverstanden, was an ihm eigentlich das Skandalöse war.

Es wäre leicht, die deutsche Erinnerungspolitik als ein rein politisches Instrument des Kalten Krieges zu kritisieren, mit dem das Land sich in den Westen integrieren oder beim Westen einschmeicheln wollte. Sicherlich war es für die Deutschen besser, die schreckliche Geschichte der Nazi-Verbrechen in Gänze selbst zu erzählen als sie sich immer nur von anderen erzählen zu lassen. Ebenso leicht fällt es, Berlin mangelndes Mitgefühl mit dem Schicksal der Palästinenser vorzuwerfen. (Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Ostdeutschland das gelobte Land der PLO war und viele palästinensische Terroristen einer früheren Generation in der DDR ausgebildet wurden.) Die Tragödie der deutschen Identität, wie sie sich am Fall Gessen gezeigt hat, unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von dem, was mächtige Kritiker des deutschen Moralismus, etwa Pankaj Mishra, für zutreffend halten.1 Nicht die deutsche Heuchelei ist das Problem, sondern die deutsche Unnachgiebigkeit, die Unfähigkeit, sich einer konvulsiv dynamischen Welt anzupassen.

Deutschlands Problem liegt nicht darin, dass es den Kampf gegen den Antisemitismus in einer Zeit priorisiert, in der israelische Kampfflugzeuge neben der militärischen auch die zivile Infrastruktur des Gazastreifens auslöschen. Robert Habeck sagte nur Offenkundiges, als er in einer emotionalen Rede darlegte: «Die Gründung Israels war danach, nach dem Holocaust das Schutzversprechen an die Jüdinnen und Juden; und Deutschland ist verpflichtet, zu helfen, dass dieses Versprechen erfüllt werden kann. Das ist ein historisches Fundament dieser Republik.» Es ist auch nicht verkehrt, dass Deutschland jeden Versuch verurteilt, das Blutbad der Hamas vom 7. Oktober zu rechtfertigen. Das Problem liegt darin, dass die deutsche Unnachgiebigkeit, wenn sie sich gegen eine jüdische Person wie Masha Gessen richtet, unabsichtlich zur Delegitimierung jener liberalen Prinzipien beiträgt, nach denen Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in den Westen integriert und nach 1989 wiedervereinigt wurde.

Mit Blick auf die moralischen Grundlagen der liberalen Nachkriegsordnung behauptete der bulgarisch-französische Philosoph Tzvetan Todorov, dass sie nur erhalten werden könne, wenn die Deutschen auf der Singularität und Außergewöhnlichkeit des Holocaust bestünden, während Juden und Israelis seine Universalität betonten. Das war eine Art Vertrag. Ein Volk hatte einem anderen unaussprechlichen und unverzeihlichen Horror angetan, und doch musste die gesamte Menschheit universell vor jeglicher Wiederholung solch monströser Barbarei geschützt werden. Wenn Deutsche also darauf beharren, dass Deutschland die Israelis weiterhin als Opfer und nicht als Täter ansehen wird, können sie zunächst damit entschuldigt werden, dass sie ihren Teil der unausgesprochenen Abmachung einhalten. Diese Entschuldigung läuft jedoch ins Leere, wenn die andere Partei den Vertrag nicht erfüllt. Und wenn die Netanjahu-Regierung darauf besteht, dass Israel nur als Opfer und niemals als Täter betrachtet werden darf, verletzt sie ihren Teil der Vereinbarung. In diesem Moment sieht es allmählich so aus, als löste sich die offizielle deutsche Haltung – als eine Sache des Prinzips – von der Realität und verharrte stur in der Vergangenheit.

Sie sind nicht berechtigt, die Seite von dieser IP-Adresse aus zu besuchen.
Vous n’êtes pas autorisé.e à consulter le site depuis cette adresse IP.