Unionsverlag Mai 2024 26 € 384 S.
Im Mai 2024, vier Jahre nach seiner englischen Erstveröffentlichung, erschien im Zürcher Unionsverlag die deutsche Übersetzung von Rashid Khalidis The Hundred Years’ War on Palestine. Khalidi ist Professor für Moderne Arabische Geschichte an der Columbia University, sein Lehrstuhl ist nach Edward Said benannt, der ebenfalls Columbia-Professor war und mit seinem Buch Orientalism 1978 die Postcolonial Studies miterfand. Wie Said ist auch Khalidi palästinensischer Amerikaner: Said wurde 1935 in Jerusalem geboren, Khalidi, nach der Emigration seiner Eltern, 1948 in New York.
Man könnte erwarten, dass ein amerikanischer Bestseller zu einem der brisantesten Themen unserer Zeit, der von Publikationen wie der Financial Times und Foreign Affairs als neues Standardwerk begrüßt wurde, in Deutschland erstens zeitnah von einem großen Verlag veröffentlicht und zweitens gleich nach Veröffentlichung rege von Chefintellektuellen und Bescheidwissern in Sachen Nahost diskutiert würde. Aber so war es bei Khalidis Buch nicht, das hierzulande, wie gesagt, verspätet und in einem kleinen, auf internationale, darunter auch arabische Literatur spezialisierten Verlag herauskam.
Als Erstes übersetzte die Jungle World eine 2020 erschienene Rezension, die Khalidi Geschichtsklitterung vorwarf. Verfasst wurde der Text mit dem Titel «Der Krieg gegen die Geschichte» vom israelischen Historiker Benni Morris, dessen Forschungen einerseits zu einem israelischen Bewusstsein für die Nakba beigetragen haben. Andererseits lautet Morris politisches Urteil aber, die Vertreibung der Palästinenser sei nicht nur notwendig gewesen, sondern auch nicht weit genug gegangen. (Zuletzt fiel Morris mit der wiederholten Forderung auf, Israel möge präventiv Nuklearwaffen gegen den Iran einsetzen. Für die SZ verriss der emeritierte Professor für Islamwissenschaft Reinhard Schulze das Buch als «Modernisierung eines Mythos» und erwähnt dabei fünfmal, dass Khalidi die Palästinenser:innen als Opfer einer «Verschwörung» darstelle. In der Zusammenfassung der SZ-Besprechung beim Perlentaucher wurde diese Aussage dann vom Rezensenten abgelöst und Khalidi kurzerhand eine «verschwörungstheoretische Darstellung» attestiert. Alles klar, Herr Kommissar.
Erst einen Monat später folgten unaufgeregtere Rezensionen. Alexander Flores, Professor für Arabistik, besprach in der FAZ trocken und sachlich den Inhalt der sechs Buchkapitel. Im Deutschlandfunk sah Stephan Detjen in der deutschen Veröffentlichung «eine Chance, die verhärteten Blockaden und Perspektivverengungen im Diskurs um den Nahostkonflikt zu lockern und damit die Voraussetzungen für einen schwierigen, aber notwendigen Dialog zu schaffen». Abgesehen von einer weiteren Besprechung in der NZZ, die Khalidi «selektive Wahrnehmung» und «Doppelstandards» vorwarf, scheint die deutschsprachige Auseinandersetzung mit dem Buch damit abgeschlossen zu sein.
Wenn man die deutsche Nahostdebatte aus einem externen Blickwinkel verfolgt – ich selbst promoviere in England und habe über ein halbes Jahrzehnt im Libanon gelebt, gearbeitet und an der American University of Beirut studiert –, dann steckt man in einer bizarren Situation: Wenn ihre Bezugspunkte akademische, internationale, meist auf Englisch geführte Diskurse sind, muss man feststellen, dass in Deutschland viele Grundlagentexte wie Edward Saids Zionism from the Standpoint of its Victims (1979) oder Wladimir Zeev Jabotinskys O shelesnoj stene (Die eiserne Mauer, 1923) nicht übersetzt sind und auch auf Englisch nicht gelesen werden. Debattenprägende Werke jüdischer und israelischer Historiker unterschiedlicher politischer Couleur wie Tom Segev, Michael Wolffsohn oder Moshe Zuckermann liegen im Original oder übersetzt auf Deutsch vor, Übersetzungen intellektueller palästinensischer Stimmen sucht man meist vergeblich. Es herrscht eine geradezu wohlige Zufriedenheit über eine antiintellektuelle Polemisierung des Diskurses, in der es zum normalen Ton gehört, dass beispielsweise die FAZ Edward Said, den Mitbegründer einer arabisch-israelischen Musik-Verständigungsinitiative als «akademisches Modell für den Israelhass» bezeichnet.
In der Tat fordert Khalidis analytische Rahmung des Nahostkonflikts einen deutschen Konsens heraus, den man zum Beispiel an den Ausführungen Ronen Steinkes bei Maybrit Illner am 16. Mai 2024 ablesen kann. Der Autor und SZ-Redakteur erklärte dort, dass die in linken Kreisen populäre Lesart des Nahostkonflikts durch eine antikolonialistische Brille «falsch», «historisch an den Fakten vorbei» und in akademischen Kontexten geradezu «beschämend» sei. Die frühen israelischen Siedler seien Flüchtende gewesen und nicht in der Absicht gekommen, «Beute zu machen oder reich zu werden»; die Behauptung, Israel sei ein Kolonialgebilde, impliziere, Kolonialisten müssten nach Hause gehen.
Es mag sein, dass einige Demonstrierende seine verzerrten Folgerungen teilen, doch Steinke hat bisher keine maßgebliche Stimme aus den Postcolonial Studies vorlegen können, die so etwas in dieser Einfachheit behauptet. Die medienwirksam als «beschämend» abgewatschte akademische Debatte untersucht im Ringen mit der angemessenen analytischen Rahmung die historischen Fakten, zeigt Strukturen und historische Brüche wie Kontinuitäten auf. Ja, historische Erkenntnisse können auf eine Art vulgarisiert werden, durch die sie sich für kritikwürdige oder gar strikt abzulehnende politische Forderungen einspannen lassen. Aber etwaige Instrumentalisierungen widerlegen nicht die Erkenntnisse, und schon gar nicht die Legitimität bestimmter Heuristiken und Analysewerkzeuge.