Israel, 7. Oktober. Protokoll eines AnschlagsLee Yaron übers. v. Sigrid Schmid
S. FischerSept. 2024 26 € 320 S.
Die Tore von Gaza. Eine Geschichte von Terror, Tod, Überleben und HoffnungAmir Tibon übers. v. Ursula Kömen
SuhrkampSept. 2024 26 € 432 S.

Moralische und ästhetische Debatten über die Darstellung von Gräueln und Genozid, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg geführt wurden, scheinen heute kaum noch relevant zu sein. Ist die Auseinandersetzung zwischen Claude Lanzmann und Jean-Luc Godard oder Georges Didi-Huberman über die Grenzen der visuellen Darstellung des Holocausts noch einschlägig? Lanzmann betonte die geistige und moralische Verunsicherung, in die die «Zeugen der Zeugen» gestürzt werden, während Godard für die visuelle Darstellung des Bösen plädierte. Die heutige Medienlandschaft scheint Godard zu folgen. Wer kann schon Diskretion oder irgendeine Regulierung der Verbreitung von Katastrophenbildern erwarten, wenn Smartphones, Go-Pros und Livestreams alles online zugänglich machen?

Die ständige Konfrontation mit diesem rohen Bildmaterial schafft eine Nähe, die umso paradoxer ist, je genauer wir sie untersuchen: Sie fordert uns auf, emotional an ihm teilzuhaben – und zugleich, aus Selbstschutz, psychische Distanz zu ihm zu wahren.

Diese Fragen stellen sich nach dem größten Terroranschlag auf Israel seit seiner Gründung erneut, einem Anschlag, der von Tätern wie Opfern in Echtzeit dokumentiert und übertragen wurde. Anders als im Nationalsozialismus, der Spuren und Zeugnisse auslöschen wollte, wurde das visuelle Rohmaterial des 7. Oktober 2023 – apokalyptische Bilder von verstümmelten Leichen, verlassenen Fahrzeugen, niedergebrannten Häusern und verwüsteten Gemeinden – wahllos in Videoclips verbreitet. Weltweit, nicht nur unter den unmittelbar Betroffenen, sah man Vergewaltigungen, Entführungen und Tötungen.

Solche kontextlosen, überwältigenden Bilder und ihr unheimlicher Soundtrack können, so ergreifend sie auch sein mögen, keine vollständige Geschichte erzählen. Das Übermaß an visuellem Material hat nach dem 7. Oktober vielleicht sogar den umgekehrten Eindruck vermittelt: zunehmendes Chaos und Desinformation, die das Denken und Fühlen bis heute lähmen. Wie kann man sich rückblickend auf die Geschehnisse dieses Tages besinnen, dessen Eigenname «10/7», wie Lee Yaron in Israel, 7. Oktober schreibt, für einen Zyklus jüdischer Trauer steht?

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10/7 verweist auf einen Trauerprozess, der bei allen Beteiligten vielschichtige Emotionen hervorruft, angefangen von unendlicher Traurigkeit und Verzweiflung bis hin zu Rache und grausamer Zerstörung, zu roher und vollständiger Objektifizierung. An den Rändern des Dauerkonflikts zwischen Israelis und Palästinensern, in der militärischen Führung, aber auch unter den Aktivisten, die den Konflikt auf die Weltbühne tragen, will niemand verhandeln. In dieser Welt wird ständig nur geredet, aber nicht gesprochen. Die Rückkehr zu einem sinnvollen Sprechen setzt ein Bemühen um das Erzählen und Interpretieren voraus: eine genaue Beschreibung der Menschen im Konflikt, ihrer Lebensweise, ihrer Umwelt, ihrer Sprachen – ihres Weltbilds. Ein solches erzählerisch-interpretierendes Unterfangen kann mit vorurteilsbehafteten politischen Kategorien gar nicht erst beginnen und erst recht nicht viel erreichen. Es braucht vielmehr Zeugnisse, die den Geschehnissen zugewandt und entwicklungsoffen entgegentreten.