Alle sind auf Drogen. Ich meine nicht die von der altmodischen, illegalen Sorte, sondern die Sorte, die von Pharmaunternehmen produziert wird und in Pillenform daherkommt. Als Psychoanalytikerin habe ich Menschen durch den Schutzschirm ihrer täglichen Dosis hindurch zugehört; und ich habe ihnen ohne ihn zugehört. Auf jeden Fall verändern sich ihre natürlichen Rhythmen, manchmal sehr dramatisch – und gerade darum geht es wohl, nicht wahr? Ich habe eine ganze Menge Fragen in Bezug darauf, was passiert, wenn eine Psyche – eine Psyche, die Emotionen, Interesse, Aufregung, Abwehr, Assoziation, Gedächtnis und Ruhe auf einzigartige Weise strukturiert – durch Medikamente untergraben wird. Was gewinnen wir in diesem faustischen Handel? Und was opfern wir?
Es gibt neuen Widerstand gegen die einfache Lösung, psychische Probleme medikamentös zum Verschwinden zu bringen. Grund dafür sind Einsichten zu Abhängigkeit und Missbrauch, ein besseres Verständnis von Placebo-Effekten oder etwa die verblüffende Erkenntnis, dass Antidepressiva einige Jugendliche nicht nur nicht vor dem Selbstmord bewahren, sondern sie manchmal sogar dazu treiben können. Daraus folgt, dass diese Pillen nicht unsere erste Verteidigungslinie sein sollten. Vielleicht ist es an der Zeit, auf das Rätsel um den menschlichen Geist und die Medizin zurückzukommen.
Die Geschichte der Psychopharmakologie reicht vom Aufkommen der Barbiturate um die Jahrhundertwende bis zur Entdeckung des ersten Antipsychotikums in den frühen 1950er-Jahren, das auf einem starken Beruhigungsmittel für chirurgische Zwecke basierte und als «nicht permanente pharmakologische Lobotomie» bezeichnet wurde. Dieses Medikament, Chlorpromazin, führte zur Entwicklung der meisten heute für die psychiatrische Behandlung verwendeten Medikamente. Die Verbreitung von Psychopharmaka, die mit vermeintlich weniger offensichtlichen Gefahren einhergingen, begann Ende der 1980er-Jahre. – Zur gleichen Zeit wurde im Vereinigten Königreich eine bahnbrechende Klage eingereicht, die sich gegen die Hersteller von Benzodiazepinen richtete, einer Klasse von Medikamenten, die zur Behandlung von Angstzuständen und anderen Störungen eingesetzt werden. Die Hersteller hatten wissentlich Erkenntnisse zu deren schädlichem Potential heruntergespielt. Heute ist die Psychopharmakologie eine Multimilliarden-Dollar-Industrie, und schätzungsweise jeder sechste Erwachsene in den USA nimmt in irgendeiner Form psychiatrische Medikamente ein (eine Statistik, die noch nicht einmal die Einnahme von Schlaf- oder Schmerztabletten oder die zulassungsüberschreitende Anwendung anderer Medikamente für psychologische Zwecke berücksichtigt).
Bevor ich anfing, an der Geschichte der Psychopharmakologie zu forschen, war mir nicht bekannt, dass es ein Antipsychotikum war, das die Entwicklung der meisten Medikamente wie Prozac oder Xanax, die wir heute so gut kennen, angestoßen hatte. Aber das Thema der Antipsychotika ließ mich zum ersten Mal darüber nachdenken, welchen Preis wir als Individuen und als Gesellschaft zahlen, wenn wir uns so umfassend auf psychiatrische Medikamente verlassen. Als ich während meiner Ausbildung in einem psychiatrischen Krankenhaus arbeitete, schien nichts selbstverständlicher als die Notwendigkeit, eine psychotische Person zu sedieren. Sie waren ja eindeutig «verrückt», und die Medikamente zeigten schnell eine die psychotischen Symptome reduzierende Wirkung – das galt insbesondere für die akustischen Halluzinationen, die diesen Patienten immerzu drohten. Was konnte daran falsch sein?
Diese Frage beurteile ich heute ganz anders. Zum einen haben diese antipsychotischen Medikamente auch heute noch, drei Generationen nach ihrer Einführung, schwere, lebensbedrohliche und lebensverkürzende Nebenwirkungen, von der Spätdyskinesie (TD), einer unwillkürlichen Bewegungsstörung, die zum Dauerzustand werden kann, bis hin zu Typ-II Diabetes, Fettleibigkeit, Demenz, Herzrhythmusstörungen und sogar plötzlichem Herztod. Ganz zu schweigen von einer ganzen Reihe weniger schwerwiegender Nebenwirkungen, insbesondere der allgemeinen Abstumpfung der Persönlichkeit. Bei der Arbeit in einer stationären Klinik lernte man das sogenannte «psychotische Schlurfen» kennen: eine charakteristische Gangart von Patienten, die unter der sedierenden Wirkung dieser Medikamente und den körperlichen Erschütterungen litten, die durch TD verursacht wurden.
Was haben wir denn gemacht, bevor es diese Substanzen gab? Wir brachten die Menschen langfristig in Krankenhäusern unter und probierten verschiedene Alternativbehandlungen aus – eine insbesondere im Vergleich zu Medikamenten kostspielige Angelegenheit. Ein großes Problem bei den Medikamenten besteht jedoch darin, dass Menschen mit schweren psychotischen Symptomen, wie zum Beispiel bei Schizophrenie, sie häufig absetzen, weil es ihnen unter ihrem Einfluss so schlecht geht. So kommt es dazu, dass diese Patienten immer wieder akut psychotisch werden und wieder und wieder ins Krankenhaus eingewiesen werden müssen. Viele von ihnen landen nun in Pflegeheimen, die in Ermangelung psychiatrischer Langzeitkliniken – von denen viele in den USA geschlossen wurden, als die Psychopharmakologie sich durchsetzte und zur vorherrschenden Behandlungsmethode wurde – als psychiatrische Auffangstationen dienen. Bei solchen Pflegeheimen handelt es sich um Einrichtungen mit wenig oder gar keinem therapeutischen Programm, die für die Unterbringung älterer und schwerbehinderter Menschen gedacht waren. Wie viel Geld sparen wir nun durch dieses System? Kürzen wir das Leben dieser Patienten dadurch ab, dass wir sie lebenslang mit Medikamenten behandeln?
Es gibt Alternativen zu diesem System. Wie Sigmund Freud schon vor Jahrzehnten feststellte, kann sich eine psychotische Person potentiell ohne übermäßige Medikation stabilisieren, sofern ihr geholfen wird, die akuteste Phase ihrer Symptome in Sicherheit zu überstehen, und sofern sie dann eine kontinuierliche Form der Gesprächsbehandlung, sowie einige Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten erhält. Ein faszinierendes, außergewöhnliches Kollektiv von Psychoanalytikern in Quebec, bekannt als «die 388», hat eine Klinik gegründet, die psychoanalytische Behandlung und Notfallversorgung rund um die Uhr für Menschen mit psychotischen Problemen anbietet. Eine Studie mit 82 Patienten, die drei Jahre oder länger in ihrer Einrichtung behandelt wurden, hat gezeigt, dass das Programm die Zahl der Krankenhausaufenthalte um 78 Prozent senken konnte, während 82 Prozent der Patienten selbständig leben und 56 Prozent in der Lage sind, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Die 388er-Gruppe hat bewiesen, dass eine solche Behandlung am Ende weit weniger kostet als die herkömmliche, und wurde daraufhin kürzlich von der kanadischen Regierung aufgefordert, weitere Einrichtungen zu eröffnen und ihr Konzept zu erweitern.
Aber das ist eben Kanada. In Amerika ist das praktisch unvorstellbar. Die knappen Ressourcen und die rechtlichen Probleme, mit denen sich ein Arzt konfrontiert sehen könnte, wären wahrscheinlich abschreckend genug, um das Risiko der Behandlung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen nicht auf sich zu nehmen; zumal die meisten Mediziner nach ihrem Abschluss zu hohe Kreditschulden haben, um ein solch prekäres Experiment in Betracht zu ziehen. Und sollte sich eine solche Einrichtung durchsetzen, würden sich die Lobbyisten der Arzneimittelhersteller sicherlich daran machen, sie aus dem Weg zu räumen.