Alle sind auf Drogen. Ich meine nicht die von der altmodischen, illegalen Sorte, sondern die Sorte, die von Pharmaunternehmen produziert wird und in Pillenform daherkommt. Als Psychoanalytikerin habe ich Menschen durch den Schutzschirm ihrer täglichen Dosis hindurch zugehört; und ich habe ihnen ohne ihn zugehört. Auf jeden Fall verändern sich ihre natürlichen Rhythmen, manchmal sehr dramatisch – und gerade darum geht es wohl, nicht wahr? Ich habe eine ganze Menge Fragen in Bezug darauf, was passiert, wenn eine Psyche – eine Psyche, die Emotionen, Interesse, Aufregung, Abwehr, Assoziation, Gedächtnis und Ruhe auf einzigartige Weise strukturiert – durch Medikamente untergraben wird. Was gewinnen wir in diesem faustischen Handel? Und was opfern wir?
Es gibt neuen Widerstand gegen die einfache Lösung, psychische Probleme medikamentös zum Verschwinden zu bringen. Grund dafür sind Einsichten zu Abhängigkeit und Missbrauch, ein besseres Verständnis von Placebo-Effekten oder etwa die verblüffende Erkenntnis, dass Antidepressiva einige Jugendliche nicht nur nicht vor dem Selbstmord bewahren, sondern sie manchmal sogar dazu treiben können. Daraus folgt, dass diese Pillen nicht unsere erste Verteidigungslinie sein sollten. Vielleicht ist es an der Zeit, auf das Rätsel um den menschlichen Geist und die Medizin zurückzukommen.
Die Geschichte der Psychopharmakologie reicht vom Aufkommen der Barbiturate um die Jahrhundertwende bis zur Entdeckung des ersten Antipsychotikums in den frühen 1950er-Jahren, das auf einem starken Beruhigungsmittel für chirurgische Zwecke basierte und als «nicht permanente pharmakologische Lobotomie» bezeichnet wurde. Dieses Medikament, Chlorpromazin, führte zur Entwicklung der meisten heute für die psychiatrische Behandlung verwendeten Medikamente. Die Verbreitung von Psychopharmaka, die mit vermeintlich weniger offensichtlichen Gefahren einhergingen, begann Ende der 1980er-Jahre. – Zur gleichen Zeit wurde im Vereinigten Königreich eine bahnbrechende Klage eingereicht, die sich gegen die Hersteller von Benzodiazepinen richtete, einer Klasse von Medikamenten, die zur Behandlung von Angstzuständen und anderen Störungen eingesetzt werden. Die Hersteller hatten wissentlich Erkenntnisse zu deren schädlichem Potential heruntergespielt. Heute ist die Psychopharmakologie eine Multimilliarden-Dollar-Industrie, und schätzungsweise jeder sechste Erwachsene in den USA nimmt in irgendeiner Form psychiatrische Medikamente ein (eine Statistik, die noch nicht einmal die Einnahme von Schlaf- oder Schmerztabletten oder die zulassungsüberschreitende Anwendung anderer Medikamente für psychologische Zwecke berücksichtigt).
Bevor ich anfing, an der Geschichte der Psychopharmakologie zu forschen, war mir nicht bekannt, dass es ein Antipsychotikum war, das die Entwicklung der meisten Medikamente wie Prozac oder Xanax, die wir heute so gut kennen, angestoßen hatte. Aber das Thema der Antipsychotika ließ mich zum ersten Mal darüber nachdenken, welchen Preis wir als Individuen und als Gesellschaft zahlen, wenn wir uns so umfassend auf psychiatrische Medikamente verlassen. Als ich während meiner Ausbildung in einem psychiatrischen Krankenhaus arbeitete, schien nichts selbstverständlicher als die Notwendigkeit, eine psychotische Person zu sedieren. Sie waren ja eindeutig «verrückt», und die Medikamente zeigten schnell eine die psychotischen Symptome reduzierende Wirkung – das galt insbesondere für die akustischen Halluzinationen, die diesen Patienten immerzu drohten. Was konnte daran falsch sein?
Diese Frage beurteile ich heute ganz anders. Zum einen haben diese antipsychotischen Medikamente auch heute noch, drei Generationen nach ihrer Einführung, schwere, lebensbedrohliche und lebensverkürzende Nebenwirkungen, von der Spätdyskinesie (TD), einer unwillkürlichen Bewegungsstörung, die zum Dauerzustand werden kann, bis hin zu Typ-II Diabetes, Fettleibigkeit, Demenz, Herzrhythmusstörungen und sogar plötzlichem Herztod. Ganz zu schweigen von einer ganzen Reihe weniger schwerwiegender Nebenwirkungen, insbesondere der allgemeinen Abstumpfung der Persönlichkeit. Bei der Arbeit in einer stationären Klinik lernte man das sogenannte «psychotische Schlurfen» kennen: eine charakteristische Gangart von Patienten, die unter der sedierenden Wirkung dieser Medikamente und den körperlichen Erschütterungen litten, die durch TD verursacht wurden.
Was haben wir denn gemacht, bevor es diese Substanzen gab? Wir brachten die Menschen langfristig in Krankenhäusern unter und probierten verschiedene Alternativbehandlungen aus – eine insbesondere im Vergleich zu Medikamenten kostspielige Angelegenheit. Ein großes Problem bei den Medikamenten besteht jedoch darin, dass Menschen mit schweren psychotischen Symptomen, wie zum Beispiel bei Schizophrenie, sie häufig absetzen, weil es ihnen unter ihrem Einfluss so schlecht geht. So kommt es dazu, dass diese Patienten immer wieder akut psychotisch werden und wieder und wieder ins Krankenhaus eingewiesen werden müssen. Viele von ihnen landen nun in Pflegeheimen, die in Ermangelung psychiatrischer Langzeitkliniken – von denen viele in den USA geschlossen wurden, als die Psychopharmakologie sich durchsetzte und zur vorherrschenden Behandlungsmethode wurde – als psychiatrische Auffangstationen dienen. Bei solchen Pflegeheimen handelt es sich um Einrichtungen mit wenig oder gar keinem therapeutischen Programm, die für die Unterbringung älterer und schwerbehinderter Menschen gedacht waren. Wie viel Geld sparen wir nun durch dieses System? Kürzen wir das Leben dieser Patienten dadurch ab, dass wir sie lebenslang mit Medikamenten behandeln?
Es gibt Alternativen zu diesem System. Wie Sigmund Freud schon vor Jahrzehnten feststellte, kann sich eine psychotische Person potentiell ohne übermäßige Medikation stabilisieren, sofern ihr geholfen wird, die akuteste Phase ihrer Symptome in Sicherheit zu überstehen, und sofern sie dann eine kontinuierliche Form der Gesprächsbehandlung, sowie einige Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten erhält. Ein faszinierendes, außergewöhnliches Kollektiv von Psychoanalytikern in Quebec, bekannt als «die 388», hat eine Klinik gegründet, die psychoanalytische Behandlung und Notfallversorgung rund um die Uhr für Menschen mit psychotischen Problemen anbietet. Eine Studie mit 82 Patienten, die drei Jahre oder länger in ihrer Einrichtung behandelt wurden, hat gezeigt, dass das Programm die Zahl der Krankenhausaufenthalte um 78 Prozent senken konnte, während 82 Prozent der Patienten selbständig leben und 56 Prozent in der Lage sind, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Die 388er-Gruppe hat bewiesen, dass eine solche Behandlung am Ende weit weniger kostet als die herkömmliche, und wurde daraufhin kürzlich von der kanadischen Regierung aufgefordert, weitere Einrichtungen zu eröffnen und ihr Konzept zu erweitern.
Aber das ist eben Kanada. In Amerika ist das praktisch unvorstellbar. Die knappen Ressourcen und die rechtlichen Probleme, mit denen sich ein Arzt konfrontiert sehen könnte, wären wahrscheinlich abschreckend genug, um das Risiko der Behandlung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen nicht auf sich zu nehmen; zumal die meisten Mediziner nach ihrem Abschluss zu hohe Kreditschulden haben, um ein solch prekäres Experiment in Betracht zu ziehen. Und sollte sich eine solche Einrichtung durchsetzen, würden sich die Lobbyisten der Arzneimittelhersteller sicherlich daran machen, sie aus dem Weg zu räumen.
Dies ist die extreme Seite der Angelegenheit, denn die Schizophrenie ist seit jeher die schwerste aller psychischen Störungen und ein Lackmustest dafür gewesen, was für eine Sicht unsere Gesellschaft auf psychische Krankheiten hat, wie wir sie behandeln und welche ethische Haltung wir gegenüber psychisch Kranken einnehmen. Nach diesen Maßstäben sieht es nicht gerade gut aus: Aus dem, was ich gelernt habe, ergibt sich, dass wir humanere Behandlungsformen gegen einen Ansatz eintauschen, der oberflächlich gesehen wirksam zu sein scheint, aber bei näherer Betrachtung den Patienten langfristig nicht hilft und sie in Wirklichkeit womöglich umbringt.
Ich bin in der Tat eine freudianische Psychoanalytikerin – dieser seltsame Anachronismus, von der Psychiatrie in Verruf gebracht, weniger wissenschaftlich zu sein, als es die Behandlung mit Medikamenten sei: aufgrund der Kontrollstudien, die man mit medikamentösen Behandlungen durchführen kann. Die moderne Psychopharmakologie geht Hand in Hand mit einem psychiatrischen Diagnosesystem, das im Laufe der Zeit so umdefiniert wurde, dass es sich auf die medikamentöse Beseitigung von Symptomen verlässt, statt die Struktur der Psyche und ihre komplexen Permutationen untersuchen und sich tiefgreifend und langanhaltend auf die Arbeit mit dem Patienten einlassen zu müssen. Die moderne Psychiatrie wird als wissenschaftliche Erfolgsgeschichte gepriesen und die Pharmaunternehmen haben davon profitiert, dass man Gesprächstherapien oft für zu langwierig hält und ihre Ergebnisse häufig als nicht überprüfbar abgetan werden. Ich stelle jedoch infrage, ob wir gesicherte Ergebnisse fordern sollten, wenn es um unser Seelenleben geht: Finden Sie jemanden glaubwürdig, der Ihnen Glückspillen verspricht?
Es scheint, als hätte die Psychoanalyse immer noch die Macht, die Menschen zu faszinieren – so sehr ist sie in der amerikanischen Populärkultur verankert. Die psychoanalytische Sprache ist in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen, und psychoanalytische Konzepte durchdringen die Art und Weise, wie wir alle menschliche Beziehungen verstehen, insbesondere Sexualität. Ich habe das Gefühl, dass wir sie mehr denn je brauchen, um mit unserem Unbehagen fertig zu werden, denn es steckt ein bleibender Wert im freudschen Verständnis der unaufhörlich konfliktiven Beziehung zwischen Zivilisation und Neurose einerseits und andererseits dem, was Reden – einfach nur Reden – bewirken kann.
Freud selbst war der Psychopharmakologie gegenüber alles andere als feindselig eingestellt. In der Tat war er für seine Experimentierfreude mit Drogen bekannt; insbesondere mit Kokain, dessen betäubende Eigenschaften und psychologische Wirkungen er als einer der Ersten entdeckte und bekannt machte (bis eine ganze Reihe seiner Freunde und Familienangehörigen, denen er die Droge verabreichte, süchtig wurden und er auf diese Weise sogar zum Tod eines Freundes beitrug, dessen Morphinmissbrauch nach gleichzeitigem Konsum von Kokain außer Kontrolle geriet und der schließlich an einer Überdosis starb). Freud selbst unterzog sich einer experimentellen Hormontherapie beim ersten Neuroendokrinologen überhaupt, um zu sehen, ob sich dadurch seine Stimmung verbessern würde. Solche Forschungen bildeten die Grundlage für die heutigen Therapien zur Geschlechtsumwandlung sowie für eine Reihe weiterer medizinischer Entdeckungen, die diesem Arzt sieben Nobelpreis-Nominierungen einbrachten.
Freuds Annahmen über die menschliche Psyche schlossen also seine eigenen recht großzügigen Experimente mit Medikamenten und medizinischen Verfahren nicht aus. Bemerkenswert ist, dass Freud am Ende seines Lebens nach fast dreißig Operationen wegen Mundhöhlenkrebs auf Schmerzmittel verzichtete, um mit seinen Patienten klar denken und weiter schreiben zu können – obwohl er nie aufhörte, die von ihm geliebten Zigarren zu rauchen, die mit ziemlicher Sicherheit seine Krankheit verursacht hatten. Die Lektion, die ich von Freud lerne, lautet, dass man sein Gift selbst wählen kann. Das ist der Grund, aus dem ich mich mithilfe dessen, was ich in den letzten zwei Jahrzehnten als Psychoanalytikerin gelernt habe, dem Thema Drogen zuwenden wollte.
Wir haben eine Wahl, ob wir Medikamente einnehmen wollen und wie wir es tun. Ich denke, wir haben das vergessen, weil an die Pillen so leicht heranzukommen ist und weil die Vorstellung vorherrscht, unsere Probleme seien einfach chemisch oder genetisch bedingt. Daher möchte ich zu Beginn daran erinnern, was mit dem medikamentösen Allheilmittel auf der grundlegendsten psychologischen Ebene behandelt wird: Schmerz, Aufmerksamkeit, Traurigkeit, Libido, Angst, Schlaf. Freud brachte es in Bezug auf diese entscheidenden Aspekte der Psyche zu erstaunlichen Einsichten, und zwar schon in seinen frühesten Schriften vor der Jahrhundertwende. Indem ich einige grundlegende psychoanalytische Begriffe erläutere, welche die häufigsten «Störungen» der Psyche betreffen, und indem ich die verschiedenen Kategorien von häufig verwendeten Medikamenten in den Blick nehme, hoffe ich, uns aus unserer blinden Verschreibungswut aufzustören.
Schmerztabletten
Ich möchte mit den Schmerzmitteln beginnen, da sie in den letzten Jahren für Schlagzeilen gesorgt haben und weil oft nicht davon ausgegangen wird, Schmerzen hätten eine psychologische Komponente (was, wie ich dagegen denke, sehr wohl der Fall ist). Angesichts der Tatsache, dass wir uns in einer Krise befinden, in deren Zuge die opioidbedingten Todesfälle in den letzten vier Jahren um 600 Prozent zugenommen haben und damit in Amerika die Todesfälle durch Schusswaffen und im Straßenverkehr übertreffen – 72.000 Tote durch Überdosierung allein im Jahr 2017 –, haben wir ein Problem mit der Art und Weise, wie wir Schmerzen behandeln.1
Schmerz ist viel rätselhafter, als gemeinhin angenommen wird. Warum manche Menschen eine viel höhere Toleranzschwelle für körperliche Schmerzen haben als andere, ist nicht vollständig geklärt. Wir wissen auch nicht genug über die Beziehung zwischen körperlichem und seelischem Schmerz.
Freud erkannte, dass Schmerz ein wichtiger, in unser Wesen eingebauter Bestandteil der Evolution ist: Er dient als primäres Mittel zur Erfassung der Realität und zur Anpassung unseres Verhaltens, um drohenden Schaden abzuwenden. Er bezeichnete den Schmerz jedoch auch als «Versagen» und als starke Grenze der Leistungsfähigkeit des psychischen Systems;2 denn einerseits sei es zu einfach, den Schmerz immer zu «fliehen» (mit anderen Worten: ihn zu verdrängen), und andererseits zu schwierig, ihn zu beherrschen, insofern er unauslöschliche Gedächtnisspuren hinterlässt, die in manchen Fällen auch im Laufe der Zeit an Heftigkeit nicht nachlassen. Die Erinnerung an den Schmerz ist oft genauso schlimm wie, wenn nicht schlimmer als der erlebte Schmerz. Man denke nur an die posttraumatische Belastungsstörung.
«Der Schmerz», schreibt Freud, ist völlig «imperativ»3 und erzeugt einen Zustand der «psychischen Hilflosigkeit».4 Und seiner Ansicht nach sind körperlicher Schmerz und seelischer Schmerz aus demselben Stoff gemacht – sie sind das, was Freud eine «Durchbrechung des Reizschutzes» nannte,5 der uns von der Außenwelt abschirmt; eine Schutzschicht analog zu unserer Haut, die intakt und unbeeinträchtigt bleiben soll. Beim Schmerz regt ein Schock an der Barriere eine Vielzahl von Nerven an, die dann zu schnell feuern, um eine Reaktion zu verhindern. Dieses eingebaute Alarmsystem stellt eine Anforderung an den Menschen und seine Umgebung und zwingt uns, uns mit dem vorfindlichen schmerzhaften Umstand, welcher Art auch immer, auseinanderzusetzen.
Selbst das, was wir als Lust oder als Belohnungssystem der Psyche bezeichnen, besteht nicht immer in einer positiven Bilanz, sondern kann auch eine das Alarmsystem beruhigende Verringerung unserer Schmerzempfindlichkeit bedeuten. Die Opioidrezeptoren des Gehirns tun genau das – etwas, das Freud bezogen auf Kokain das Glück des «Schweigens der inneren Organe» nannte.6 Lulling can be dulling. Freud stellt auch fest, dass der Schmerz und die mit ihm verbundenen Geräusche, wie Schreie oder Stöhnen, zu einer ersten Gedächtnisspur zusammenkommen, indem sie die sensorischen Bereiche des inneren Fühlens mit einem akustischen Korrelat zusammenbringen. Unser Geist schafft eine feste Verbindung zwischen dem Schmerz und den Geräuschen, die wir damit assoziieren und die die Macht haben, kraft Einfühlung bei anderen Menschen unmittelbar selbst Schmerzen zu erzeugen. Das ist es, was die Schreie eines Säuglings so unerträglich macht. Unsere Schmerzerfahrung umfasst also nicht nur unseren eigenen Schmerz, sondern auch unsere Beziehung zum Schmerz anderer.
Mit dem Missbrauch von Schmerzmitteln behandeln wir also nicht nur unseren eigenen Schmerz, der immer irgendwo zwischen dem Körperlichen und dem Seelischen liegt, sondern wir betäuben auch den immensen Schmerz um uns herum. Die Moderne hat es zunehmend ermöglicht, den Reizschutz zu durchbrechen – von den unerfüllbaren Anforderungen und dem chaotischen Druck des heutigen Lebens bis hin zu einem Gefühl zunehmender Hilflosigkeit angesichts von Umweltkatastrophen, Armut, Einsamkeit, Ungerechtigkeit, Vernichtung. Man könnte sagen, ‹all der Schmerz› sei nicht neu, aber die ständig erzwungene Aufmerksamkeit für das Theater, in dem er sich abspielt, ging mit dem einfachen Zugang zu einem mächtigen Gegenmittel einher: der Fähigkeit, den Schmerz medikamentös fortzuschaffen; nicht nur unseren eigenen, sondern allen Schmerz.
Faszinierenderweise stellt Freud in seinem späteren Werk Zur Einführung des Narzissmus fest, dass der Schmerz, der aus organischen Ursachen entsteht, oft unseren Narzissmus verstärkt und uns dazu bringt, unser Interesse an der Außenwelt aufzugeben – «einzig in der engen Höhle des Backenzahnes weilt die Seele», so zitiert Freud Wilhelm Buschs Vers über den Dichter, der unter Zahnschmerzen leidet. Dies ist ein Zustand, der, so Freud, dem Schlaf ähnelt oder, wie er es nennt, «ein narzisstisches Zurückziehen der Libidopositionen auf die eigene Person»,7 eine Abkehr von der Welt darstellt. Schmerz und Narzissmus sind also Bettgenossen – und was ist der Missbrauch von Schmerzmitteln anderes als eine synthetische Version dieser Paarung, die den Wunsch erfüllt, weiterzuschlafen, weiterzuträumen, sich von der Welt abzuwenden? Die Überdosierung scheint diesem Schema immanent – als das Risiko, in den Dauerschlaf abzugleiten, in das schmale Loch zu fallen, welches das Aufhören allen Schmerzes zu versprechen scheint.
Dieses Verständnis der Beziehung zwischen Narzissmus und Schmerz hat eine ethische Komponente. In der Opioidkrise wird das Paradoxon einer Gesellschaft flagrant, die den Schmerz so schnell wie möglich auslöschen will, obwohl sie sich weigert, sich ihm und seinen zugrundeliegenden Ursachen zuzuwenden oder sich darum zu kümmern.
Die Auslöschung des Schmerzes oder das «Fliehen» vor ihm wird es uns niemals ermöglichen, den Schmerz zu beherrschen, sondern erhöht nur das Bedürfnis nach seiner fortgesetzten Auslöschung. Diese Beherrschung des Schmerzes erklärte Freud als die Bildung eines geistigen Reaktionsnetzes, das unsere Werkzeuge für den Umgang mit dem Schmerz jenseits «der Einwirkung einer toxischen Aufhebung und der Beeinflussung durch psychische Ablenkung»8 stärke. Freud empfahl stets «Arbeit», als welche er das Geschehen in der Psychoanalyse charakterisierte; er sagte auch, man könne sich den Trieb oder die Libido als Arbeitsanforderung des Körpers an die Seele9 vorstellen – so wie der emotionale Schmerz, der von anderen kommt, uns zu dem Versuch nötigen kann, ihm Sinn abzugewinnen und ihn dafür wieder und wieder zu durchleben.
Was sind Anti-Schmerz-Medikamente/painkillers also letztendlich? Sie sind Anti-Trieb-Medikamente/drive-killers, weshalb ihre Wirkung auf die Sexualfunktion und sogar auf die Verdauung mit dem Aufhören von Arbeit zu tun hat. Dies deutet auf die akute Gefahr hin, die von diesen unzureichend regulierten Pillen ausgeht. Die Pharmakonzerne profitieren dabei von diesem einfachen Begehren: kein Körper, kein Antrieb, kein Schmerz, keine Hilflosigkeit, nichts. Auf die logische Spitze getrieben, geht es um permanenten Schlaf. Um den Tod.
Amphetamine
Begeben wir uns nun von einer schlafenden Welt in eine Welt auf Stimulanzien. Ganze Universitäten und Klassenzimmer beugen sich den Kommandos: Aufwachen! Stillsitzen! Aufpassen! Ich hasse es, sehen zu müssen, wie Kinder auf Ritalin gesetzt werden, während ihre Eltern zwanghaft die E-Mails oder den Twitter-Feed checken und auf jegliches Zeichen der Erlahmung eines Gesprächs lauern, das sie zu einem Blick auf ihr Handy berechtigt. Diese Heuchelei dringt bis ins Innerste unseres Wesens vor, wenn wir erkennen, dass wir dazu fähig sind, die unbeirrbarste Aufmerksamkeit auf bestimmte Aufgaben zu richten – stundenlanges Videospielen, Einkaufen bei Etsy oder Urlaubsplanung im Internet – aber nicht auf die, die wir nicht mögen oder die am dringendsten zu erledigen sind.
Arbeit ist hart. Wenn die schmerzhaften Konzentrationsanforderungen, die von der Arbeit oder dem Leben ausgehen, überwältigend werden, wenn Erfolg oder Misserfolg auf der Kippe zu stehen scheinen, ist die Versuchung groß, die sozialen Medien zu checken und zu prokrastinieren. Wir sitzen also wirklich in der Klemme: Niemand will aufpassen, niemand kann so einfach stillhalten; und niemand weiß so wirklich, ob die Drogen irgendwie dabei helfen, bessere Noten zu erzielen oder produktiver zu werden, abgesehen davon, dass wir uns durch sie besser fühlen – auf dem größenwahnsinnigen Trip, den uns die Stimulanzien verschaffen.
Wir Psychoanalytiker bezeichnen das gerne als medikamentöse Beseitigung von «Kastrationsangst», um die es bei Speed ebenso geht wie bei Kokain. Damit meinen wir den Versuch, sich zwischen den Gewissensbissen (zum Beispiel wegen einer verpassten Abgabefrist für eine Arbeit) und der Versagensangst (denn die Arbeit kam zu spät und wurde außerdem als unzureichend beurteilt) hindurchzuwinden, die in unserem Kopf widerhallen wie ein Henkerslied. Oder anders ausgedrückt: ADHS-Medikamente erzeugen einen falschen Ego-Boost, einen vorübergehenden Heiligenschein aus Selbstwertgefühl. Freud sagte 1926 in seinem Aufsatz Hemmung, Symptom und Angst, die meisten Patienten suchten wegen Hemmungen Hilfe, die – ihm zufolge – das Ich in den Bereichen Sexualfunktion, Essen, Fortbewegung oder Berufsarbeit beeinträchtigten.10 (Probleme bei der Fortbewegung, der «Lokomotion», mögen in dieser Aufzählung als die seltsamste Kategorie erscheinen, aber die Schwierigkeiten mit der Arbeit, mit Essstörungen und der Sexualfunktion erkennen wir schnell wieder – dazu später mehr.)
Wir sind noch immer ungemein gehemmt. So sind viele Patienten nicht ohne weiteres sexuell handlungsfähig und kommen auch nicht in den Genuss der Freuden des Appetits oder des Erfolgs bei der Arbeit. Aber Folgendes schreibt Freud speziell über das Thema des Berufs:
«Die Arbeitshemmung, die so oft als isoliertes Symptom Gegenstand der Behandlung wird, zeigt uns verminderte Lust oder schlechtere Ausführung oder Reaktionserscheinungen wie Müdigkeit (Schwindel, Erbrechen), wenn die Fortsetzung der Arbeit erzwungen wird. Die Hysterie erzwingt die Einstellung der Arbeit durch Erzeugung von Organ- und Funktionslähmungen, deren Bestand mit der Ausführung der Arbeit unvereinbar ist. Die Zwangsneurose stört die Arbeit durch fortgesetzte Ablenkung und durch den Zeitverlust bei eingeschobenen Verweilungen und Wiederholungen.»11
Kommt Ihnen das bekannt vor? Bewegen wir uns als Gesellschaft immer mehr auf das zu, was Freud Zwangsneurose nennt?
Freud unterscheidet hier zwischen dem besagten Zustand (der einer Zwangsneurose nahekommt) und der Hysterie. Der Hysteriker – der eine ganze Reihe von körperlichen Symptomen hat, von Schmerzen über Lähmungen bis hin zu Übelkeit, die ihn am Arbeiten hindern – ist anders strukturiert als der Zwangsneurotiker, der aufgrund von Ablenkung und Prokrastination nicht arbeiten kann. Für Freud ist der Hysteriker sogar leichter zu behandeln, weil der hysterische Patient in den meisten Fällen einer Sache in der Außenwelt ausweicht – in der Regel der Sexualität –, während der Zwangsneurotiker auf rigorose Weise einer Sache in seinem inneren Seelenleben aus dem Weg geht. Es ist nicht leicht, die Aufmerksamkeit eines Menschen auf eben das zu lenken, wovon er sich fernhalten will, vor allem, wenn es sich um etwas Inneres handelt. Diese Kraft des Widerstands muss überwunden werden. Aber der Hysteriker lässt sich leicht zu der Quelle seines Leidens, Traumas und Konflikts führen, womit die körperlichen Symptome und die Unfähigkeit, sich dem Leben zuzuwenden, verschwinden. Diejenigen mit ADHS auf der Seite der Zwangsstörung sind viel geschickter darin, die Quelle zu meiden.
Im Allgemeinen ist Freud kein Freund der Aufmerksamkeit um ihrer selbst willen. Ihm war deutlich, dass sie immer leicht zu stören ist. In Zur Psychopathologie des Alltagslebens – seinem Frühwerk aus dem Jahr 1901, in dem es im Wesentlichen um Fehlhandlungen und Unachtsamkeiten geht – schreibt er, dass eine «unbewusste ›Such-Bereitschaft› viel eher zum Erfolg zu führen vermag als die bewusst gelenkte Aufmerksamkeit.»12 Freud war fasziniert von den Phänomenen, bei denen ein absichtlicher Versuch, die Aufmerksamkeit auf etwas Vergessenes zu lenken, leicht abgewehrt werden konnte, während die Bereitschaft, etwas wissen zu wollen und dann die Aufmerksamkeit abschweifen zu lassen, oft dazu führte, dass die Information wieder ins Gedächtnis geschossen kam. Wir erbringen die besten Leistungen, wenn wir nicht versuchen, unsere ganze Aufmerksamkeit auf eine Aufgabe zu lenken, sondern wenn wir in der Lage sind, eine Teilung unserer Aufmerksamkeit zu nutzen und wie automatisch zu handeln, ohne darüber nachzudenken; wenn wir die Aufgabe «mit minimaler Aufmerksamkeit» verrichten13.
Das können wir zum Beispiel auch beim lauten Lesen beobachten. Oft lesen wir fehlerfrei vor und haben dabei unsere Gedanken dennoch so weit abschweifen lassen, dass wir gar nicht mehr wissen, was genau wir gelesen haben. Freud sagt dazu, dass es sich nicht um «eine quantitative Verminderung der Aufmerksamkeit» handelt, wie viele Psychologen meinen, sondern um «eine Störung der Aufmerksamkeit durch einen fremden, Anspruch erhebenden Gedanken.»14 Aus ebendiesem Grund schrieb Freud das Buch, in dem er Fehlhandlungen als Ausfälle der Aufmerksamkeit versteht, denen eine bestimmte Motivation zugrunde liegt. Freud, ganz in seinem Element, wollte herausfinden, ob er mit seiner Analyse die Gründe dafür finden könnte, dass man seine Lebensgefährtin seine Mutter nennt oder seinen Regenschirm im Wartezimmer seines Psychoanalytikers liegen lässt.
In gewissem Sinne setzte Freud größeres Vertrauen in das unbewusste Seelenleben als in die Wechselfälle des Bewusstseins oder die Funktionen des Ich. In seinem Modell der Psyche muss man zulassen, dass sie von dieser fremden Kraft übernommen wird, dass einige Prozesse automatisch ablaufen, dass andere vor sich hintreiben. Man muss sich auf dieses Fließen einlassen. Tatsächlich wurde dies zum Modell für die Arbeitsweise der Psychoanalytikerin: ihre gespaltene, schwebende Aufmerksamkeit, die es ihr ermöglicht, auf das zu achten, was an Unbewusstem durch jenes Sprechen wachgerufen wird, zu welchem der Patient gelangt, während sie gleichzeitig dem Gesagten zuhört, geistig an- und abwesend ist, die Gedanken auffängt, die uns ablenken, und zu einer Aufgabe zurückkehrt. Starre, ungetrübte Aufmerksamkeit wird überbewertet.
Wenn man sich also von dem entfremdet, was einem bereits fremd ist (unbewusste Gedanken), das aber leicht Ansprüche auf die eigene Aufmerksamkeit erheben kann, dann sitzt man, psychoanalytisch gesprochen, sehr tief in der Tinte. Das ist das Problem bei ADHS oder bei der Zwangsneurose: Sie ist die reinste Form der Entfremdung vom eigenen Innenleben, weshalb alles in ein nach außen gerichtetes Problem der Vermeidung, der Ablenkung und der Prokrastination verwandelt wird. Arbeit dagegen zehrt vom Unbewussten, vom Gefühlsleben und von den Reserven des Selbstwertgefühls, die mit den unvermeidlichen Ängsten zurechtzukommen helfen.
Wer an ADHS leidet, wird schnell feststellen, dass es das Unbewusste ist, das nicht toleriert werden kann – nicht die Excel-Tabelle, sondern Sie selbst. Stimulanzien helfen Ihnen, über eine bestimmte Hürde zu kommen, aber die Drogen können Ihr Innenleben nicht vollständig auslöschen. Es wird immer da sein und nach dem Ausnüchtern auf Sie warten – irgendwann, wenn Sie einen stillen Moment haben, in dem die Raserei zum Erliegen kommt. Wollen Sie denn nicht wissen, worum es da geht, bevor Sie es chemisch abdämpfen?
Um mit einer eher deprimierenden Bemerkung zu schließen, die der unheimlichen Tatsache auf dem Fuße folgt, dass genau diese ADHS-Stimulanzien im Dritten Reich verwendet wurden, um Soldaten bei der Durchführung von Vernichtungsaktionen aufzuputschen: Der Soziologe Theodor W. Adorno hat in seinem Artikel Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda auf die Ironie der Nazi-Parole «Deutschland erwache» just zu der Zeit hingewiesen, als Deutschland von einem faschistischen Führer in Massenhypnose versetzt wurde. Was die Nazis meinten, war das genaue Gegenteil: «Deutschland, schlaf ein!»15 Könnte das Gleiche auch für unsere massenhafte Medikation gegen kollektive Abgelenktheit gelten?
Antidepressiva
Kommen wir von der induzierten Manie zur Depression: Es ist vierundzwanzig Jahre her, dass «Prozac Nation»16 veröffentlicht wurde. Ich habe es nie gelesen, aber praktisch jeder, den ich kenne, hat schon einmal ein modernes Antidepressivum wie den selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) Prozac eingenommen. Helfen Antidepressiva gegen Depressionen? Das ist ein heikles Thema, denn sie haben schon vielen Menschen durch depressive Phasen geholfen und einigen, die mit Selbstmordgedanken zu kämpfen hatten, das Leben gerettet. Ich kann bloß sagen: Ich ziehe es vor, wenn meine Patienten möglichst keine Antidepressiva einnehmen, oder wenn sie sie irgendwann absetzen. Klar, die Tiefpunkte sind nicht so tief, aber auch die Höhepunkte nicht so hoch und die Lust ist auf eine Art mittleren Bereich beschränkt. Das ganze System fühlt sich an, mit Sylvia Plaths Metapher der Glasglocke gesprochen, als wäre es hinter Glas gefangen.
Bei der psychoanalytischen Arbeit kommt es darauf an, den natürlichen Gefühlsrhythmen der Psyche zu folgen, die sich zwischen Angst, Traurigkeit und Erregung bewegen und dabei zuzulassen, dass sich an den blockierten Punkten eine gewisse Spannung aufbaut. Das eben ist es, was Durchbrüche ermöglicht. Mit SSRIs ist es, als liefe die Maschine reibungslos und in sich selbst, und die Beschwerden – die nicht verschwinden – drehen sich dann im Leerlauf, ohne je wirklich Kraft zu entwickeln. Aber davon einmal abgesehen: Wer kann sich in der heutigen Welt, die von uns verlangt, immer aktiv und produktiv zu sein, schon Tiefpunkte leisten? Ich kann das verstehen. Ich denke in der Tat, dass die Anforderungen, die wir an uns selbst stellen, überzogen sind – und an sich schon beinahe Depressionen erzeugen.
Zudem ist die psychoanalytische Arbeit hart – sowohl die Analytikerin als auch der Patient müssen über die realen und schmerzhaften melancholischen Sequenzen hinwegkommen (oder sie – mit Freud gesprochen – durcharbeiten), die uns nicht nur psychisch, sondern auch auf biologischer Ebene beeinträchtigen. Sie führen manchmal zu Lethargie, Schlaflosigkeit oder sogar zu psychotischem Verfolgungswahn. Freud hat sein ganzes Leben lang mit dem Problem der Melancholie gerungen und war sich zu verschiedenen Zeitpunkten nicht sicher, ob sie mittels Psychoanalyse behandelbar sei; insbesondere was ihre extrem Form betrifft – die zyklische Depression, bzw. das, was wir heute als bipolare Störung bezeichnen. Meist helfen in diesen Fällen selbst Antidepressiva nicht wirklich weiter und Psychiater wenden sich dann oft extremeren Behandlungsformen zu. Als ich im Krankenhaus gearbeitet habe, bedienten wir uns oft der Elektrokrampftherapie (EKT), bei der ein Krampfanfall ausgelöst wird, um die Psyche wieder in Gang zu bringen. Dabei werden ganze Gedächtnisspuren ausgelöscht.
Zu anderen Gelegenheiten betrachtete Freud die Depression als eine Tendenz innerhalb jeder Neurose – eine affektive Veränderung, bei der sich die Unzufriedenheit, die die neurotische Krankheit kennzeichnet, bis zur Depression steigert. Er sah in dieser Art von Depression auch einen Knotenpunkt, an dem uns die Dilemmata des Verlustes auf einer tiefen Ebene angehen und berühren. In gewissem Sinne ist die Melancholie das, was wir von unseren Vorfahren geerbt haben – das, was nicht aufgearbeitet oder metabolisiert wurde. Sie ist Ausdruck eines Traumas, das über Generationen hinweg weitergegeben und wiederholt wurde. 1937 schrieb Freud an Prinzessin Marie Bonaparte einen berühmt gewordenen Brief über seine Gedanken zur Depression:
«Im Moment, da man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank, denn beides gibt es ja in objektiver Weise nicht; man hat nur eingestanden, dass man einen Vorrat von unbefriedigter Libido hat, und irgendetwas anderes muss damit vorgefallen sein, eine Art Gärung, die zur Trauer und Depression führt. Großartig sind meine Aufklärungen gewiss nicht. Vielleicht weil ich selbst zu pessimistisch bin. Mir geht ein ‹advertisement› im Kopf herum, das ich für das kühnste und gelungenste Stück amerikanischer Reklame halte: ‹Why live, if you can be buried for ten Dollars?›»
Freud ist immer dann witzig, wenn er auf Amerika zu sprechen kommt – hier findet er die perfekte Illustration für den Gärungsprozess der Depression, der eine bestimmte Art von Kalkül in Bezug auf den Wert des Lebens möglich macht. Das Leben – unbefriedigend, schmerzhaft, ohne objektiven Sinn – kann manche auf die Idee bringen, der Tod wäre besser; besser, wenn er weniger schrecklich und wenn er billig zu haben wäre.
Wir alle kennen das Selbstgespräch des großen Melancholikers Hamlet über den Selbstmord:
Sterben – schlafen – /
Nichts weiter! Und zu wissen, dass ein Schlaf /
Das Herzweh und die tausend Stöße endet, /
Die unsers Fleisches Erbteil.
In der Tat können Depressive Abscheu darüber empfinden, einen Körper zu haben, der die Erschütterungen des Lebens registriert; die unvermeidliche Enttäuschung durch geliebte Menschen fühlt sich an wie in bereits klaffende Wunden geriebenes Salz. Dennoch entscheidet sich Hamlet gegenüber der Ungewissheit des Todes für ein Leben, das ihm zwar elend und ungerecht vorkommt, das er aber kennt. Freud sieht das Problem darin, dass Hamlet dachte, das Leben hätte mehr Bedeutung haben sollen als es eben hatte, wie es in seinem Wunsch nach Gerechtigkeit, Glück und Liebe zum Ausdruck kommt. Aber wie Freud schon sagt: «Großartig sind meine Aufklärungen gewiss nicht. Vielleicht weil ich selbst zu pessimistisch bin.»
Warum also geraten manche Menschen in diesen Prozess der depressiven Gärung? Schon früh wies Freud auf den Zusammenhang zwischen einer Vorgeschichte mit Anästhesie – also mit dem Verlust von Gefühl und insbesondere Lust – und der Melancholie hin. Es gibt verschiedene Grade dieser libidinösen Verarmung. Bei der zyklischen Depression kommt es sowohl zu einer Entleerung von, als auch zu einer Überflutung mit Libido, welche die schweren vegetativen und manischen Symptome der Krankheit hervorruft. Wenn sie vom Verlust aller Gefühle und Ziele in einen Zustand des Übermaßes an Gefühlen übergehen, haben manische Menschen plötzlich eine Million Dinge, die sie äußerst dringend und mit großer Aufgeregtheit erledigen müssen – wie etwa vierzig Volkswagen zu kaufen und in den Jemen zu schicken, um Kompensation für die Kinder zu leisten, die bei einem US-unterstützten Luftangriff ums Leben kamen.
Freud führte die sogenannte depressive Neurasthenie – einen Zustand von Trägheit, Unwohlsein und Langeweile – auf übermäßige Masturbation oder ein Übermaß an manueller Libidoabfuhr zurück, die das gesamte System schwäche. Diese negative Sichtweise der Selbstbefriedigung war im viktorianischen Zeitalter weit verbreitet, aber von diesem medizinisch verbrämten Moralismus abgesehen, wies Freud auf die Probleme des Sich-gehen-Lassens hin, die nach einem Exzess zu Anästhesie oder Melancholie führen. Dazu zählte er alle Probleme aus dem Bereich der Sucht, einschließlich der Sexsucht, oder einfach den Hedonismus im Allgemeinen.
Schlussendlich gibt es Freud zufolge Menschen, bei denen die körperlichen Gefühle an einer Grenze feststecken und sich nicht in Gedanken, Ideen oder Gefühle umwandeln können. In der Folge machen sie sich als diffuse Angst bemerkbar. Wenn diese Angst beginnt, die Libido aufzuzehren, spricht Freud von Angstmelancholie.17 In diese Rubrik würde er Alexithymie (Mangel an emotionaler Selbstwahrnehmung), Anhedonie (Unfähigkeit, Lust zu empfinden), Asexualität (Verlust des sexuellen Verlangens), Anorexie (Appetitlosigkeit) und viele der Wechselfälle der Enttäuschung einordnen, die sich bis zum Grad einer milden Melancholie entwickeln können. Eben auf diese letztgenannte Kategorie zielen die Kampagnen für Antidepressiva aus diesen eigenartigen Fernsehspots, in denen man von Cartoonfiguren gefragt wird, ob man sich einsam, traurig oder einfach nicht mehr wie man selbst fühle.
Freud räumt ein, Anästhesie ohne Melancholie sei möglich, aber Melancholie niemals ohne irgendeine Art von Anästhesie. Und das ist von entscheidender Bedeutung, denn diese Taubheit ist zwar selbst Teil der Depression, aber sie ist auch eben das, dem die Depression zu entkommen versucht, indem sie die Gefühle von Elend und Schmerz verstärkt. Unglücklicherweise beenden Antidepressiva die Qualen und verstetigen die Taubheit. Sie verpacken die Depression in Luftpolsterfolie.
Ist es da denn irgendwie verwunderlich, dass das, was man am offensichtlichsten opfert, wenn man Antidepressiva einnimmt – obwohl es nie wirklich zugegeben wird – die orgasmische Lust selbst ist? Antidepressiva können das sexuelle Verlangen und die Fähigkeit zum Orgasmus stark einschränken und tun das in der Regel auch. Es ist nicht einfach, mit Sexualität zu leben, mit einem Körper, mit all seinen unvorhersehbaren Lust- und Schmerzempfindungen – den tausend Stößen, die unsers Fleisches Erbteil. Das sexuelle Verlangen, dieser ständige Motor, der uns dazu antreibt, immer und immer wieder von vorn zu beginnen, wird durch die depressive Betäubung ausgeschaltet. Stattdessen will man gar nichts mehr – und immer folgt die Wut, welche diese Leerstelle einnimmt: «schon gar nicht von dir!»
Vielleicht verlieh Freud dem Problem der Melancholie aus diesem Grund in seinem Artikel Trauer und Melancholie aus dem Jahr 1917 mehr Substanz und stellte fest, dass es sich nicht nur um einen überschnappenden libidinösen Prozess handelt, sondern auch um eine Unfähigkeit, Begehren aufrechtzuerhalten, die in einer morbiden, unbewussten Bindung an einen verlorenen geliebten Menschen gründet. Irgendwo ist der Melancholiker gefühlsmäßig an jemanden oder etwas gebunden, das ihn von innen heraus erdrückt. Er kann einfach nicht los- und etwas Neues zulassen, etwas anderes begehren, den Motor abstellen und wieder anwerfen, wie es sich gehört. Während Depressive also das Leben für sinnlos erklären, gibt es eine geheime Anhänglichkeit an einen Teil des Lebens, den sie mit ihrer Depression schützen. Die depressive Wut auf die Maschine18 war eine Möglichkeit, jemanden oder etwas, das verloren gegangen ist, weiterhin zu lieben. Und der Schmerz ist der Versuch der Psyche, sich endlich davon zu befreien, um nicht die Sinnlosigkeit des Lebens, sondern das Ende einer bestimmten Art und Weise anzuerkennen, in der das Leben einen Sinn angenommen hatte.
Das sexuelle Begehren wird in der Depression am stärksten getroffen, da sich diese Sehnsucht in Hoffnungslosigkeit verwandelt, oder, wie Freud es poetisch ausdrückte: «der Schatten des Objekts fiel so auf das Ich».19 Sind Antidepressiva Substanzen, die durch die Weigerung, schmerzhafte Verlusterfahrungen durchzuarbeiten, Beihilfe zu diesem Anklammern und dem Abgleiten ins Neutrale bis Negative leisten? Kein Sex, kein Begehren, kein Verlust, kein Gewinn – nur ich und du und dieser dumpfe Schmerz. Oder, wie es ein Pink-Floyd-Text einmal ausdrückte: «Das Kind ist erwachsen. Der Traum ist fort. Ich bin angenehm taub geworden./The child is grown. The dream is gone. I have become comfortably numb.»
Viagra
Sexuelle Funktionsstörungen – und unsere medikamentösen Heilmittel zu ihrer Behandlung – stehen logischerweise als Nächstes auf der Liste – nicht zuletzt, weil Antidepressiva einer der Hauptfaktoren sowohl für Erektionsstörungen bei Männern als auch für Störungen des sexuellen Interesses/der Erregungszustände bei Frauen sind. Die Häufigkeit von Störungen des sexuellen Interesses und der sexuellen Erregung bei Frauen im Alter von zwanzig bis sechzig Jahren wird auf 30 Prozent geschätzt, wenngleich dabei oft zugestanden wird, dass Frauen weniger geneigt sind, über das Problem zu sprechen. Männer tun das seit der Einführung von Viagra im Jahr 1998 dagegen viel bereitwilliger. Die Hälfte aller Männer zwischen vierzig und achtzig Jahren berichtet über Probleme aus dem Bereich der erektilen Dysfunktion (ED) und der globale Markt für Medikamente zur Behandlung von ED umfasst einen Wert von über 3 Milliarden US-Dollar.
Eine meta-analytische Studie aus dem Jahr 2017 ergab, dass Depressionen das Risiko einer erektilen Dysfunktion und erektile Dysfunktion das Risiko einer Depression erhöhen, insbesondere wenn man in einem Industrieland lebt. Das bringt uns in eine beengende, fast klaustrophobische Lage – etwas, worauf Freud bereits 1908 in Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität hingewiesen hatte. In diesem Artikel für die medizinische Fachzeitschrift Sexual Problems behauptete Freud als einer der Ersten, dass es nicht die Sexualität an sich sei, die Konflikte oder Funktionsstörungen hervorrufe, sondern dass vielmehr in der Wechselwirkung der Sexualität mit Kultur und Moral etwas aus dem Lot gerate.
Freud befürchtete, dass die Schädigung der Sexualität des Einzelnen letztlich die Gesellschaft als Ganzes bedrohen werde. Er beschließt seinen Artikel mit der Feststellung, dass die der Sexualität auferlegten Beschränkungen, die neue Formen neurotischer Erkrankungen hervorrufen, die Menschen auch ängstlicher gegenüber dem Leben machen. Das führt zu einer übermäßigen Angst vor dem Tod, die nicht nur die Genussfähigkeit des Menschen, sondern auch seine Bereitschaft beeinträchtigt, Kinder zu bekommen und damit an der Zukunft der Zivilisation teilzuhaben. Es geht Freud zufolge nicht nur darum, dass wir nicht in der Lage wären, es miteinander zu tun, und auch nicht einmal darum, dass wir es nicht wirklich wollten, sondern darum, dass wir uns hinsichtlich des Sinns von intimen Beziehungen und des Lebens im Allgemeinen in einer tiefen Krise befinden.
Freud ist in diesem Artikel ein ziemlicher Sexualrevolutionär: Er kritisiert die Beschränkungen der Monogamie und die Doppelmoral, die Männern Treuebrüche gestattet; er stellt das, was oft als sexuelle Perversion angesehen wurde, als normalen Teil der Sexualität dar und zeigt, dass das Ziel der Sexualtriebe die Lust und nicht die Fortpflanzung ist. Aber er war alles andere als ein Anhänger des hedonistischen Sexualgenusses. Er war der Auffassung, ein solcher Genuss, insbesondere eine übermäßige Selbstbefriedigung, schwäche die psychische Konstitution. Auch der romantischen Liebe stand er skeptisch gegenüber, da er sie für unbeständig hielt, insofern sie sich nicht ohne weiteres mit dem sexuellen Begehren verbinden oder von diesem aufrechterhalten ließ und oft Teil neurotischer Illusionen oder eines religiös-moralischen Idealismus war.
Später wies Freud auf die unbequeme Wahrheit hin, dass die frauenfeindliche Erniedrigung einer Sexualpartnerin sich den Männern hinsichtlich ihrer Potenz als ausgesprochen hilfreich erwies. Bei den meisten Männern, die sich wegen der von Freud so bezeichneten «psychischen Impotenz» in Behandlung begaben, war es leicht festzustellen, dass sie nur bei einigen Frauen impotent waren und bei anderen nicht. Die Frauen, bei denen sie ihre Virilität unter Beweis stellten, waren in der Regel Frauen, die sie nicht respektierten oder für die sie keine Zuneigung empfanden – kurz gesagt, Frauen aus einer niedrigeren Klasse oder Prostituierte. Ich möchte anmerken, dass diese These über männliche Sexualität und Erniedrigung lange vor dem Zeitalter der Internetpornografie formuliert wurde, die Freud nun endlich eingeholt hat. Freud benannte dieses Problem in einem meiner Lieblingsaufsatztitel: Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens.
Freud entwickelte dieses Motiv dahingehend weiter, dass der Madonna-Hure-Komplex durch inzestuöse Phantasien verursacht werde. Das heißt, sobald eine Frau auch nur im Entferntesten an die Mutter eines Mannes erinnert (weil sie Mutter geworden ist, weil er sich von ihr eingeschüchtert oder einfach von ihr abhängig fühlt), ist die erektile Funktion dahin. Frauen, so Freud, haben ihre eigene Version: Sie mögen geheime Beziehungen, und sobald etwas sanktioniert ist, verliert es seinen aufregenden, transgressiven Reiz; in diesem Szenario tritt die Frigidität auf den Plan. Trotz der Skepsis, die Freud in Bezug auf Frauen (und vieles andere) entgegengebracht wird, erweisen sich diese Ideen für Feministinnen nach wie vor als hilfreich, weil sie zeigen, wie Frauenfeindlichkeit strukturiert ist und warum Frauen als Reaktion auf konventionelle Formen der Sexualität auf symptomatische Weise von ihrem Begehren ablassen.
Sowohl Frauen als auch Männer, so Freud, müssen ihre Gefühle des «Respekts» überwinden, die ihr sexuelles Begehren einschränken.20 Außerdem müssen sie sich ihren inzestuösen Phantasien stellen: Wir alle haben sie – daher das Allgemeine im Titel des Essays. Tatsächlich scheinen viele von uns zu versuchen, sich ihren Inzest-Phantasien zu stellen, denkt man daran, dass eine Varietät an Mutter-Pornos 2017 Platz drei, vier, fünf und sechs der meistgesuchten Kategorien bei Pornhub belegte. Und seit 2016 haben wir einen Präsidenten mit einer offensichtlichen Vorliebe für die Herabwürdigung von Frauen, selbst wenn er offen seine Bewunderung für die Körper seiner Töchter zum Ausdruck bringt. Gleichzeitig sind wir immer noch eine Gesellschaft, die von Sexualmoral oder ‹Sexualpanik›, wie manche es nennen, durchdrungen ist. Damit meine ich nicht nur Ideen oder Ideale von Sex oder Sexualität, sondern auch Vorstellungen von Liebe, Ehe und Familie.
Die Idee der Familie war nie stärker als heute, trotz einer bei etwa 45 Prozent liegenden Scheidungs- und einer Geburtenrate, die auf den niedrigsten Stand seit 1987 gesunken ist. Trotz der offensichtlichen Fiktionalität von Sendungen wie «The Bachelor» oder «The Bachelorette», bei denen niemand ernsthaft daran glauben kann, dass die Reality-TV-Kandidaten die wahre Liebe finden, die zur Ehe und einer Familie führen wird, wollen wir dennoch daran glauben. In der Tat scheint sich nichts irgendwie besser zu verkaufen, als wenn es mit einer Familie in Verbindung gebracht wird, wie bei den Kardashians, Duck Dynasty oder den Trumps. Vielleicht verkauft sich heute die Familie besser als Sex. Denn in den letzten Jahren berichten viele Forscher von einem starken Abnehmen der sexuellen Aktivität auf der ganzen Welt, mit einem Rückgang von 15 Prozent in den Vereinigten Staaten und der extremen Statistik aus Japan, wo 46 Prozent der Frauen und 25 Prozent der Männer angeben, den sexuellen Kontakt zu «verachten».
Die Forscher geben den Pornos die Schuld, den Arbeitszeiten und dem Stress, den Depressionen und der Unsicherheit des modernen Lebens. Aber Freud, der 1908 seine Patienten befragte, gab zu bedenken, dass die Probleme des sexuellen Verlangens oft nicht einfach durch eine äußere Situation entstehen, sondern dann, wenn jemand eine Wahrheit über seine Liebesbeziehungen nicht anerkennen oder aussprechen kann. Oft verdrängen sie die Wahrheit, um so einem gesellschaftlichen Ideal des Familienlebens oder ihrer Vorstellung von einer intimen Beziehung gerecht zu werden, und werden dann krank. Aber die Krankheit verursacht kein bisschen weniger Unzufriedenheit und Sorgen, als wenn man sich die Wahrheit eingestehen würde. In einer Bemerkung, deren bitterer Ton nicht zu überhören ist, sagt Freud: «Dieses Beispiel ist für die Leistungen der Neurose geradezu typisch.»21
Freud will damit sagen, dass wir ein Problem mit Sex und dem sexuellen Begehren haben und ein Problem mit der Wahrheit. Dies ist eine enorme doppelte Herausforderung für die Praxis der Psychoanalyse, die sich damit beschäftigt, so ehrlich wie möglich über die eigenen Wünsche und sexuellen Schwierigkeiten zu sprechen. Es dauert lange. Und selbst unter Bedingungen, unter denen alle Einschränkungen gelockert sind, haben die Menschen immer noch große Schwierigkeiten, darüber zu sprechen, was sie wollen. Es scheint, als würden sich viele Menschen lieber von einer unbehaglichen Sexualität abwenden, die sie von innen heraus zu überfallen scheint. Ohne harte therapeutische Arbeit werden wir also eine ganze Menge Medikamente brauchen.
Natürlich arbeitet Big Pharma fieberhaft daran, ein Viagra-Äquivalent für Frauen zu entwickeln. Die neueste Pille in der Testphase trägt den Namen «Lybrido» – man beachte, dass sie das phonetische Äquivalent von «breed» [fortpflanzen] in den Namen aufgenommen haben, um unserer Vorliebe für den Moralismus entgegenzukommen, welcher uns die Sexualstörungen beschert. Interessanterweise äußerten sich die in einem langen Artikel über die Versuche mit diesem Medikament in der New York Times im Jahr 2013 befragten Frauen auffallend ambivalent: Sie wollten das Medikament unbedingt haben, manchmal bestanden sie sogar darauf, sie schienen aber gleichzeitig Anweisungen nicht zu befolgen, behaupteten, sie seien in der Placebogruppe, vergaßen die vorgeschriebene Anwendung mit anschließendem Geschlechtsverkehr und berichteten sogar, Orgasmen gehabt zu haben, die aber zu keinen allgemeineren Veränderungen ihres Begehrens führten. Diese Frauen suchten auch nicht nach alternativen Lösungen, wie zum Beispiel einer Therapie, um der Sache auf den Grund zu gehen; sie warteten lieber auf den Tag, an dem die echte Pille auf den Markt käme. Lustig, denn ich bin mir nicht sicher, ob sie sie wirklich wollen. Aber um diese Reibung geht es wohl.
Benzodiazepine
Und nun zu jedermanns Liebling: Medikamente gegen Angstzustände. Jeder weiß ein Xanax oder Klonopin an einem dieser Tage zu schätzen, an denen wir mit den Nerven am Ende sind und der Tequila zur Happy Hour nach der Arbeit nicht mehr wirklich hilft. Das Problem an besagten Pillen ist, wie jeder Arzt bestätigen wird, dass diese Substanzen in hohem Maße süchtig machen: Ihre Halbwertszeit ist kurz, die Toleranz gegenüber den Medikamenten nimmt schnell zu. Gegen die Angst, die sie behandeln sollen, tun sie nicht viel mehr, als sie bloß sehr vorübergehend wegzumedikamentieren, und die körperliche Belastung beim Versuch, die Medikamente abzusetzen, ist gravierend und gefährlich.
Schon der zweite nüchterne Tag nach einem selbst gemäßigten Umgang mit so einem kleinen «Hausfrauenfreund» ist der reinste Horror. Man spürt, wie der Druck sich aufbaut, wenn das Medikament nachlässt und sich dieses Surren wieder einschleicht – so wie das unaufhörliche Piepen der Benachrichtigungen auf dem iPhone im Nebenzimmer. Was, wenn ich es in eine Schublade oder vielleicht sogar in den Keller lege? Noch eine Pille. Noch zwei… Ich mache mir also große Sorgen, wenn meine Patienten auf den Geschmack von Xanax kommen – ein Zustand, der meistens mit der Empfehlung beginnt, Xanax in der Handtasche oder im Portemonnaie mit sich zu führen, verschrieben «nach Bedarf». Wir raten den Menschen dazu, ein starkes Beruhigungsmittel in ihrer Tasche mit sich zu führen, nur für den Fall der Fälle?
Die meisten meiner Patienten kommen mit einer Mischung aus Angstzuständen und Depressionen zu mir und Antidepressiva helfen bei Angstsymptomen nicht sonderlich viel. Sogar Wellbutrin («das schlanke Antidepressivum», wie es nunmehr genannt wird, weil es nicht die bei den anderen Mitteln übliche Gewichtszunahme verursacht), das angeblich bei diesem gemischten Bild helfen soll, kann die Angst nicht wirklich in der Art und Weise behandeln, wie ein Medikament vom Typ der Benzodiazepine. Es kann die Situation sogar noch verschlimmern, da es stärker aufputscht als die anderen Antidepressiva. Und wenn man sich mehr auf das Leben einlässt, hat man oft auch mehr Angstzustände. Aber was ist Angst? Leidet nicht jeder in gewissem Maße darunter?
Für manche ist die Angst gleichbedeutend mit der Existenz: Leben heißt, Angst zu haben. Das ist es, was Kierkegaard und einige der anderen Existenzialisten aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hervorhoben und sogar feierten. Für Psychoanalytiker und Psychiater war Angst/anxiety eine Furcht/fear ohne Objekt – Schrecken/dread wäre ein gutes Wort dafür. Auch wenn sie eine dem psychologischen System strukturell selbst schon innewohnende Tendenz ist, konnte sie für manche zu einer mächtigen Disposition werden. Früher nannte man sie «Nervosität», wegen des überempfindlichen und ohne nennenswerten Auslöser reagierenden Nervensystems der ängstlichen Person. Angst reagiert auf alles Mögliche, und darin besteht das Problem. Sie hat kein Ziel und kein Außen, das irgendwie konstruiert werden muss.
Wenn sich die Angst zu einer Phobie oder einer wirklichen Panikattacke entwickelt, ist sie in der Tat leichter zu behandeln. Zumindest gibt es dann ein Objekt der Furcht oder einen Höhepunkt einer Angst, die sich ansonsten tendenziell diffus und endlos anfühlt. Die extremen Pole der Angst sind logischerweise einerseits Agoraphobie und andererseits Klaustrophobie. Das heißt, man ist da, wo man ist, nicht glücklich – ob drinnen oder draußen, ob allein oder mit anderen –, da man sich nicht aus den stählernen Fängen der Falle, die die Angst ist, befreien kann.
Freud bereitete die Angst mit ihren hohen Kosten für das Seelenleben immer große Sorge. Er arbeitete vom Anfang bis zum Ende seines Schaffens an der Präzisierung seiner Theorie der Angst. Sehr spät noch nahm er drastische Änderungen daran vor und entschied, Angst sei nicht das Ergebnis psychologischer Abwehrmechanismen, sondern vielmehr von deren Versagen oder Fehlen. Wir wären der Angst nicht so ausgeliefert, hätten wir bessere Abwehrmechanismen und Symptome – etwa eine Verdrängung, die uns vergessen lässt, was uns nicht behagt, oder Phobien, die unsere Angst auf etwas Symbolisches wie Spinnen oder öffentliches Reden konzentrieren. Keine Spinne, keine Angst. Hier gibt es eine Umkehrung, in deren Zuge Freud aus den Symptomen eine Art Errungenschaft macht. Für Freud sind Symptome immer schöpferische psychische Lösungen, Anpassungsleistungen, die wir für unsere künstlerischen, wissenschaftlichen oder anderen beruflichen Unternehmungen nutzen können. Er nannte eine bestimmte Art der Symptombildung ohne Angst sogar eine «schöne Gleichgültigkeit» (belle indifference).22 Das ist es, was der ängstliche Mensch nicht erreichen kann.
Außerdem leben wir in einer Zeit, die von vielen als zutiefst angstgetrieben und unsicher beschrieben wird. Einige Psychoanalytiker haben auf etwas hingewiesen, was sie den Zusammenbruch der kollektiven Phantasien nennen. Diese, wie etwa der Glaube an Gott oder den amerikanischen Traum oder die Aufklärung oder den Märchenprinzen und so weiter, trugen dazu bei, unsere Abwehrfähigkeit gegen die Angst zu stärken. Bei meinen Patienten erlebe ich, dass das Reden über die Angst und die vielen unmittelbaren Palliativa dagegen wie eine neue Religion wirken. Die Angst und die Mittel dagegen bringen eine ganze Reihe neuer Rituale mit sich – von der Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln (also noch mehr Pillen) über das Checken sozialer Medien sogar bis hin zum Facebook-Stalking. Freud nannte diese Art von Heilmitteln gegen Ängste «Schiefheilung».23
Bei seinem allerersten Versuch, die Ursache der Angst zu finden, kam Freud zu dem Schluss, sie sei eine Folge des sogenannten «coitus interruptus». Unter diesem Begriff wollte er jegliche Unterbrechung des Orgasmus verstanden wissen. Das ist eine dieser Stellen bei Freud, wie etwa auch die, an der er behauptet, Männer würden aus der Nase menstruieren, an denen man sich denkt: Okay, er war jung, oder vielleicht hatte er viel Kokain genommen. Aber Freud verknüpfte zum ersten Mal zwei Ideen miteinander: zum einen das Verständnis unserer individuellen Psyche und wie sie strukturiert ist, und zum anderen, wie diese Struktur mit unseren Beziehungen zu anderen – insbesondere mit unseren intimen sexuellen Beziehungen – in Wechselwirkung steht. Zunächst stellt Freud Angst und Orgasmus einander gegenüber: Der Orgasmus ist die Äußerung des Triebes in der Außenwelt – das, was er die «Entladung» der Libido nach außen nannte24 –, während Angst im Innern gefangene Libido ist – außerstande, entweder in Denken oder geistige Arbeit überzugehen und eine Form in der Welt anzunehmen, oder zum Körper zurückzukehren. Dann sagt Freud, dieses innere Versagen der Sexualität spiegele sich in der Außenwelt in einem Versagen wider, mit unseren Partnern zum Orgasmus zu kommen; darin, uns nicht dem sexuellen Genießen hinzugeben. Wir verderben den Sex. Wir lassen uns selbst und unsere Partner halb befriedigt zurück. Und darin spiegelt sich ein innerer Zustand, in dem sich die Energien des Körpers nie wirklich zu Lust oder zu einem definierbaren geistigen Inhalt entwickeln. Genau das ist der Stoff, aus dem die Angst gemacht ist.
Freud geht dann noch diesen einen Schritt weiter (und darin besteht das Geniale): Diese beiden Momente des Scheiterns – des inneren und des äußeren – laufen im Wesentlichen auf die Anerkennung unserer Getrenntheit, unseres Alleinseins in unserem Körper und unserer Unfähigkeit, eine Einheit oder gemeinschaftliche Befriedigung mit anderen zu erreichen, hinaus. Angst ist die Wahrheit der unendlichen Schwierigkeit von Sexualität und sexuellen Beziehungen. Diese Interpretation gab Freud dem coitus interruptus: In dieser gescheiterten sexuellen Begegnung – in einem Augenblick, in dem unsere Erwartungen, besonders irgendeiner Erfahrung von Vereinigung, hoch sind – erkennen wir, wie getrennt voneinander wir in Wirklichkeit sind. Angst!
Erst viel später in seiner Laufbahn bringt Freud all dies die Angst Betreffende wirklich in einen einheitlichen Zusammenhang. Er gelangt zu der Aussage, die Angst sei immer das, was sie war, als sie in der Kindheit zum ersten Mal auftrat: nämlich Trennungsangst.25 Kinder haben – laut Freud – keine Angst vor der Dunkelheit oder gar vor Fremden, sondern sie sehnen sich in diesen Momenten nach der primären Bezugsperson, die alle ihre Bedürfnisse befriedigt. Die sich aufbauende Sehnsucht nach dem anderen – der sich um mich kümmert, mir ein Gefühl der Sicherheit gibt, mir Lust bereitet – kann in Angst umschlagen, derer wir dann Herr werden müssen, insofern wir schlicht irgendwann damit anfangen, uns um uns selbst zu kümmern.
Der Umgang mit der Angst ist also Teil der Entwicklung unserer Autonomie. Auch hier zeigt Freud, dass diese Bewältigung sowohl innerlich als auch äußerlich stattfinden muss: der Angst nicht nachgeben, sondern das Gefühl von Verlust und Alleinsein in Arbeitsfähigkeit umwandeln (oder wenn nicht das, dann zumindest in ein definierbares Symptom). Das bedeutet auch, an einen Punkt zu kommen, an dem man die momentane Abwesenheit der anderen und vielleicht sogar deren Verlust tolerieren kann. So, wie es auch von Beziehungen heißt: Entweder es geht schlecht aus, weil wir uns trennen, oder es geht schlecht aus, weil einer von uns stirbt.
Für die Psychoanalyse bedeutet das Getrenntsein, auch wenn es eine einfache Tatsache ist – wir sind unwiderruflich voneinander und sogar von uns selbst getrennt –, nichtsdestoweniger eine große Errungenschaft, an der wir unablässig arbeiten müssen. Wir können diese Arbeit allein oder – um zwischendurch einmal weniger pessimistisch zu sein – auch mit anderen zusammen verrichten. Das ist uns so lang möglich, als die Beteiligten den Wert ebenso wie die Schwierigkeit der Trennung verstehen. Andernfalls geht es in der Regel so aus, dass wir der Phantasie des anderen zuarbeiten und sie stützen (Kodependenz – schon mal gehört?).
Es sieht danach aus, dass wir alle trotz unserer hyperindividualistischen, mit Inzestpornografie saturierten Welt – oder vielleicht in Reaktion darauf – große Schwierigkeiten mit Trennung haben. Angst ist Familiensache. Wir vermissen unsere Eltern, und wir vermissen die Illusionen welcher Art auch immer, in die sie uns eingewickelt haben; wir vermissen es, uns zu fühlen, als hätten wir keine wirklichen Bedürfnisse, und befriedigt zu werden, wann immer wir etwas wollen. Wir bevorzugen diese Idealvorstellung und empfinden das Erwachsenenleben mit all seinen Pflichten bestenfalls als furchtbar und langweilig und schlimmstenfalls als angstgeplagt: diese Ungerechtigkeit! Außerdem macht es uns wütend, dass das mit dem Sex nicht so läuft, wie wir uns das gedacht haben.
Aber das Problem, oder vielleicht sogar die Lösung, besteht darin, dass wir ängstlichen Menschen die Wahrheit kennen: Wir werden alle allein sterben, die anderen machen, was sie wollen, in der Sexualität geht unweigerlich etwas schief, wer weiß schon, was sonst irgendjemand denkt; ich weiß nicht, was ich will; ich weiß nicht, wie ich dir geben kann, was du willst, und ich weiß ganz sicher nicht, was passieren wird – zwischen uns oder überhaupt. Die Angst ist immer das Signal einer Wahrheit, die dich ruft. Eben deswegen feiern die Psychoanalytiker in einem gewissem Sinn den Zusammenbruch unserer kollektiven Phantasien und hoffen, dass wir es alle auf die andere Seite dieser Mauer der Angst schaffen, hin zu dem, was sie gerne – ein bisschen zynisch, vielleicht mit ein wenig Grausamkeit – Realität nennen.
Schlaftabletten
Schlaftabletten sind ein guter Schlusspunkt, vor allem, weil es sich bei der einen Wahrheit in der Psychoanalyse, die meiner Meinung nach um jeden Preis gerettet werden sollte, um den erstaunlichen Wert des Traumlebens handelt. Es ist etwas, das ich als vollkommen demokratisches Gut verstehe, denn es steht allen kostenlos zur Verfügung und nicht nur denen, die zufällig Aktien von Pfizer besitzen. Schlaftabletten zerstören das Traumleben. Denn zum einen beeinträchtigen sie die REM-Schlafphase (die Phase, während der man träumt), zum anderen ist man dann nach dem Aufwachen oft zu benommen, um die Erinnerung an einen Traum zu behalten. Sie machen zudem Schluss mit der Erfordernis, sich auf den Schlaf vorzubereiten: das Aufhören der Gedanken, der Rückzug nach innen, das Loslassen des Tages in einem Akt, durch den wir eine Unterbrechung im Leben schaffen.
Ja, der Schlaf ähnelt dem Tod, und das ist beängstigend, aber vielleicht geht es genau darum: sich mit der Tatsache abzufinden, dass wir nicht ewig wach sein, nicht immer weiter denken, handeln, planen, wünschen können. Wir müssen unserem Körper Ruhe gewähren. Wir müssen unsere Aufnahmebereitschaft für Wahrnehmungen oder andere Empfindungen herunterfahren. Wir müssen zulassen, dass die vom Bewusstsein ausgeübte Kontrolle nachlässt. Schlaf, so könnten wir sagen, ist Trennung – von uns selbst und von anderen.
«Der Traum», so Freuds berühmte Formulierung, «ist der Wächter des Schlafes».26 Deshalb oft die Frage nach den (Alb-)Träumen, die einen aufwecken. In gewissem Sinne sind Albträume für Freud gescheiterte Träume, insofern der Mechanismus der Entstellung im Traum, der alle beunruhigenden Gedanken und Gefühle verschleiert – und so die Träume an der Oberfläche unsinnig macht –, versagt und zu viel Angst und Schrecken durchlässt. Ein Traum soll uns im Schlaf halten, den Lähmungszustand des Körpers bewahren, alle äußeren Wahrnehmungen oder Empfindungen absorbieren und ein Narrativ aus Bildern hervorbringen, das einem halluzinierten Wunsch entspricht.
Für Freud ist jeder Traum eine Wunscherfüllung, selbst wenn es sich um einen Albtraum handelt – in der Regel ist der Albtraum ein Traum, der dem Wunsch folgt, eine schreckenerregende Erfahrung oder Reihe von Gefühlen zu bewältigen. Aus diesem Grund kann man aus seinen Träumen viel lernen. In diesem Aufsatz geht es jedoch nicht um die Bedeutung von Träumen, sondern wir befassen uns mit der Psychopharmakologie, die den Schlaf ins Visier nimmt. Warum also wird jemand schlaflos oder hat Einschlafschwierigkeiten?
In einem Aufsatz von 1915 mit dem Titel Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre spricht Freud darüber, wie die Entspannung des Ich uns auf das Unbewusste zurückwirft, was sich dann im Traumleben ausdrückt: «Je stärker die ubw Triebbesetzungen sind, desto labiler ist der Schlaf. Wir kennen auch den extremen Fall, dass das Ich den Schlafwunsch aufgibt, weil es sich unfähig fühlt, die während des Schlafes frei gewordenen verdrängten Regungen zu hemmen, mit anderen Worten, dass es auf den Schlaf verzichtet, weil es sich vor seinen Träumen fürchtet.»27 Damit meint er, dass je weniger wir uns mit unserem Unbewussten angefreundet haben, es sich desto gefährlicher anfühlen und den Schlaf desto stärker beeinträchtigen wird.
Im Extremfall können wir eine Phobie gegenüber dem Schlaf entwickeln. Und die unheilvollste psychogene Schlafstörung lässt sich bei den zombieartigen Zuständen Depressiver beobachten, die niemals wirklich schlafen, obwohl sie doch die ganze Zeit schlafen. Die «allgemeine Einziehung der Besetzungen»,28 die zum Einschlafen nötig ist, kann nicht stattfinden, weil die Psyche – so sagt Freud – verblutet. Er nannte das den Schmerz eines «Loch(s) im Psychischen», gleichsam eines Behälters ohne Boden.29
Auftritt der Schlaftablette. Aber Vorsicht: Wie auch bei Abführmitteln und der Peristaltik verliert man schnell das Gefühl dafür, wie man sich an diesem Ort zwischen dem Freiwilligen und dem Unfreiwilligen noch zurechtfindet.
Etwas hieran ist seltsam. Freud beschreibt den Schlaf selbst als einen glückseligen Zustand, äquivalent zum Narzissmus. Er beschreibt diesen Narzissmus und seine Beziehung zu den Träumen als die rein bildliche und auditive Projektion eines inneren Prozesses, eine veritable Psychose (in der widersprüchlichen Logik der Träume und ihrer Verrücktheiten), eine Reihe halluzinierter Wunscherfüllungen (in denen alle unsere Träume wahr werden) und eine Lockerung von Moral und Rationalität. Wer würde sich das nicht wünschen? Warum schlafen wir nicht einfach die ganze Zeit? (In einem Artikel, den ich las, beschrieb ein Psychoanalytiker die schwerste Sucht, die er je behandelt hat, als die eines Patienten, der tagsüber Schlaftabletten einnahm.)
Wenn der Schlaf und das Träumen denn wirklich so erstrebenswert sind, warum sind wir dann schlaf- und ruhelos geworden und weichen dem Augenblick aus, in dem wir uns von der Welt abwenden können – insbesondere vor dem Hintergrund einer Psychopharmakologie des Alltagslebens, die doch genau darauf abzuheben scheint? Ich weiß nicht, ob ich eine gute Antwort darauf habe, aber ich vermute, dass, wenn der Traum die via regia zum Unbewussten ist, es sich dabei um etwas Schlimmeres als die Abwendung von all dem Schmerzlichen in der Welt handeln muss. Konfrontiert mit der Angst vor der Begegnung mit dem eigenen Unbewussten, ziehen wir anscheinend Regeln, Rationalität, Unzufriedenheit, unterdrückerische Autoritäten, Wunschlosigkeit, Phantasielosigkeit, Erinnerungslosigkeit vor … Ich könnte die Aufzählung fortsetzen.
Freud hat immer gesagt, der größte Widerstand gelte dem Unbewussten – vielleicht sogar in höherem Maße als dem Tod selbst. Aus diesem Grund wendet er sich in einer apokryphen Geschichte an Jung, mit dem er sich zum Zweck seiner einzigen Reise in die Vereinigten Staaten, wo er 1909 an der Clark University sprechen sollte, gemeinsam auf einem Schiff befand: «Sie ahnen nicht, dass wir ihnen die Pest bringen.» Freud drückt das in einem Artikel aus dem Jahr 1917 anders aus und schreibt, er betrachte sich selbst als einen, der, wie Friedrich Hebbel sagt, «an den Schlaf der Welt» rührt.
Es mag sich so anhören, als sei Freud vollkommen größenwahnsinnig (und als würde ich in dieser Hinsicht auch ein eindrucksvolles Votum für mich selbst abgeben), aber wenn wir wirklich ein Drittel unseres Lebens im Schlaf verbringen – wäre es dann nicht besser, davon auszugehen, dass das für die anderen zwei Drittel unseres Lebens zu irgendetwas nutze ist? Vor allem in einem Sinn, der uns der Wahrheit näherbringt und sich nicht einfach mit irgendeiner physiologischen Erklärung begnügt, die uns, unsere Psyche, unser Leben, unsere Geschichte einfach aus dem Spiel nimmt? Wäre es nicht besser, diesen unmittelbaren inneren Zugang zu uns selbst als Geschenk zu verstehen – als ein Geschenk, das insofern sogar materiell sein kann, als viele Psychoanalytiker festgestellt haben, dass Träume, oft noch bevor unser bewusstes Selbst oder ein Arzt dazu in der Lage sind, ein Wissen über eine organische Krankheit im Körper preisgeben können?
Vielleicht ist unser Hang zu Pillen, unsere Unruhe, unser Begehren nach weniger Schmerz, besserem sexuellen Funktionieren, weniger emotionalem Durcheinander auch ein tiefes Begehren, uns besser mit unserem unbewussten Leben bekannt zu machen? Vielleicht auch nicht. Letzte Nacht habe ich von einem einäugigen Meerschweinchen geträumt – und ich habe immer noch nicht herausgefunden, warum, obwohl ich das jetzt schon seit zwanzig Jahren mache. Und in der Nacht davor hatten mein Partner und ich denselben Traum, nachdem wir darüber gesprochen hatten, dass wir denselben Traum haben wollten. Das ist einerseits unheimlich und andererseits ein unbewusster Witz – das Unbewusste scherzt gerne und ist dabei ach-so-lustig –, abgesehen davon, dass der Inhalt unseres Traums der Tod war, in Form der Asche des anderen, die wir essen mussten. Liebe und Trauer als Kannibalismus. Mein Unbewusstes fügte diesem Witz noch einen weiteren hinzu: Die Asche, die ich essen sollte, hatte die Form eines Toasts, was wiederum eine Redensart für den Tod ist.1 Asche-Toast: zum Schießen. Aber ich hatte auch gerade erfahren, dass meiner Tante, die in Ashville lebt, Darmkrebs diagnostiziert worden war. In der Tat, der Schlaf des Todes.
Selbst wenn ich meinen Partner so sehr liebe, dass ich davon träumen muss, ihn zu essen, und auch träume, dass er tot ist, weil das einfacher wäre, als ihn weiter zu lieben, wenn ich aufwache und er immer noch da ist und ich ihn nicht esse – sondern mich vielleicht beim Küssen oder Essen zu sehr gehen lasse oder mich anderweitig oral befriedige – dann wird mir die Kluft zwischen uns bewusster. In genau dieser Lücke arbeitet der Trieb und organisiert meine Wunschphantasien zu einem Traum, der mich über die Tiefe und die Grausamkeit und den Narzissmus meiner Begierden belehrt. Außerdem auch über Zärtlichkeit. Es ist komisch, sich vorzustellen, wie die Illusion des Traums Illusionen zerstören kann – aber das war Freuds geniale Entdeckung, und so dachte er auch über die psychoanalytische Behandlung.
Der Narzissmus des Schlafes kann den tatsächlichen Narzissmus heilen, da wir uns der Welt besser zuwenden können, wenn wir unsere schlimmsten narzisstischen Ängste – insbesondere Verletzungen durch andere – im Traum erlebt und verarbeitet haben. Oft ist es so, dass, wenn ein Albtraum wieder zu einem eigentlichen Traum – einem Traum voll mit Wünschen und auch mit anderen Gefühlen als Schrecken – werden kann, die Angst sich gemildert hat. Durch eine Lockerung unserer moralischen Verhärtung und unserer grimmigen Vernünftigkeit werden wir im wirklichen Leben weniger streng mit uns selbst und anderen und außerdem kreativer sein. Durch die makellose Projektion innerer körperlicher Vorgänge (eben das ist ein Traum), können diese Vorgänge zu sich selbst zurückkehren und von allein arbeiten, in ihrer eigenen Zeit und in ihrem eigenen Raum: eine organische Bewegung vom Körper zur Psyche und zurück. Die Psychoanalyse macht sich diese Effekte zunutze.
Dieses «Kennenlernen des Unbewussten» ist keine schnelle Lösung. Mit den Pillen wird es eine Zeit lang einfacher sein. Und ich kann das verstehen – ich habe auch viele davon genommen. Aber in der psychoanalytischen Arbeit geht es, wie ich es bei mir selbst und bei meinen Patienten erlebt habe, um so viel mehr, das möglich ist.
Als ich für diesen Beitrag Freuds Texte durchging, stieß ich auf eine weitere seiner bissigen Bemerkungen über Amerika – diesmal im Zusammenhang mit Schlaftabletten. Sie findet sich in seinem Werk Die Zukunft einer Illusion, in dem er mit einem imaginären Gesprächspartner die Frage der Religion diskutiert:
«Es ist gewiss ein unsinniges Beginnen, die Religion gewaltsam und mit einem Schlage aufheben zu wollen. Vor allem darum, weil es aussichtslos ist. Der Gläubige lässt sich seinen Glauben nicht entreißen, nicht durch Argumente und nicht durch Verbote. Gelänge es aber bei einigen, so wäre es eine Grausamkeit. Wer durch Dezennien Schlafmittel genommen hat, kann natürlich nicht schlafen, wenn man ihm das Mittel entzieht. Dass die Wirkung der religiösen Tröstungen der eines Narkotikums gleichgesetzt werden darf, wird durch einen Vorgang in Amerika hübsch erläutert. Dort will man jetzt den Menschen – offenbar unter dem Einfluss der Frauenherrschaft – alle Reiz-, Rausch- und Genussmittel entziehen und übersättigt sie zur Entschädigung mit Gottesfurcht. Auch auf den Ausgang dieses Experiments braucht man nicht neugierig zu sein.»2
Es ist eine schöne Erinnerung daran, dass die Psychoanalyse wohl kaum durch irgendeinen frommen Eifer dazu angetrieben wird, Ihnen Ihre Medikamente wegzunehmen. Wir setzen unsere Hoffnung vielmehr in bessere, robustere Freuden – irdische Freuden, in diesem Leben. Freud sagte, er sei der Auffassung, dass wir diesen Schritt tun und – mit Heinrich Heine – den Himmel «den Engeln und den Spatzen» überlassen sollten.3
Die englische Version dieses Textes erschien in der New York Review of Books.
- Anm. d. Übers.: Die Zahlen sind in den Jahren 2020 und 2021 weiter auf etwa 92.000, bzw. 107.000 gestiegen. ↑
- Vgl. Entwurf einer Psychologie (Aus den Anfängen der Psychoanalyse), S. 315f. ↑
- Die Verdrängung (Werke X), S. 249. ↑
- Hemmung, Symptom, Angst (Werke X), S. 201. ↑
- Jenseits des Lustprinzips (Werke XIII), S. 31. ↑
- Vgl. Über Coca (Freud-Gesamtausgabe I), S. 50: «Es wird vielleicht gestattet sein, anzunehmen, dass auch die Euphorie der Gesundheit nichts Anderes ist als die normale Stimmung der gut ernährten Hirnrinde, die von den Organen ihres Körpers ‹nichts weiß›.» ↑
- Zur Einführung des Narzißmus (Werke X), S. 149. ↑
- Die Verdrängung (Studienausgabe III), 107. ↑
- Vgl. Triebe und Triebschicksale (Werke X), S. 214. ↑
- Hemmung, Symptom, Angst (Werke XIV), S. 114. ↑
- Hemmung, Symptom, Angst (Werke XIV), S. 115. ↑
- Zur Psychopathologie des Alltagslebens (Werke IV), S. 233. ↑
- A.a.O., S. 239. ↑
- A.a.O., S. 146. ↑
- Theodor W. Adorno, Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda, in: Alexander Mitscherlich (Hrsg.), Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 1970, 24(7), S. 507. ↑
- Anm. d. Übers.: Prozac Nation ist eine in den USA als Bestseller geltende Autobiografie der Journalistin, Autorin und Anwältin Elizabeth Wurtzel, die ihre Depression und Medikamentensucht ins Zentrum stellt. ↑
- Manuskript G (Aus den Anfängen der Psychoanalyse), S. 94. ↑
- Anm. d. Übers.: Anspielung auf die in den 1990er Jahren erfolgreiche sozialkritische Rockband Rage Against the Machine ↑
- Trauer und Melancholie (Werke X), S. 435. ↑
- Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens (Werke IIX), S. 86. ↑
- Die ‹kulturelle› Sexualmoral und die moderne Nervosität (Werke VII), S. 166. ↑
- Die Verdrängung (Werke X), S. 258. ↑
- Massenpsychologie und Ich-Analyse (Werke XIII), S. 159. ↑
- S. etwa Manuskript G (Aus den Anfängen der Psychoanalyse), S. 94. ↑
- S. Hemmung, Symptom, Angst (Werke XIV), S. 160f. ↑
- Die Traumdeutung (Werke II), S. 239. ↑
- Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre (Werke X), S. 416. ↑
- Trauer und Melancholie (Werke X), S. 439. ↑
- Manuskript G (Aus den Anfängen der Psychoanalyse), S. 96f. ↑
- Anm. d. Übers.: «To be toast» ist ein umgangssprachlicher Ausdruck für «erledigt sein». ↑
- Die Zukunft einer Illusion (Werke XIV), S. 372. ↑
- A.a.O., S. 374. ↑