Was war zuerst da – das Schreiben oder die Übersetzung, das Huhn des Originaltexts oder das Ei der Übersetzung, habe ich mich gefragt, während ich an diesem Text saß. Die Antwort ist gleichsam offensichtlich, man kann unmöglich etwas übersetzen, das nicht existiert, das noch nicht geschrieben ist. Auch wenn ich mir oft gewünscht hätte, das Gegenteil wäre der Fall. Und ich habe meinen Übersetzerinnen und Übersetzern immer wieder im Scherz gesagt: Übersetzt den Text schon mal, ich schreibe ihn dann später! (Vielleicht hätten wir es bei vorliegendem Text, der dem Übersetzen gewidmet ist, versuchen sollen.)
Aber jetzt denke ich mir, dass die Dinge doch nicht so offensichtlich sind. Eigentlich ist jeder Schriftsteller selbst auch Übersetzer. Er übersetzt, überträgt, kleidet jenes in Worte, was er von sich selbst oder von der Welt nimmt, von Erlebtem, Gedachtem, Gelesenem. Schreiben ist Transformation und Translation des Sichtbaren und Unsichtbaren, aus dem der Autor seine Werke schöpft. Oder des Unsichtbaren in Sichtbares.
Die Etymologie dieses Wortes „Über-setzung“ (im Bulgarischen превод [prevod] zu пре- [pre-] ‹hinüber› und водя [vodja] ‹ich führe›, vergleiche auch lateinisch trānslātiō zu trāns- ‹hinüber› und lātum ‹getragen›) ist kein Zufall – von einem Ort an einen anderen übersetzen, überführen, übertragen. In diesem Sinne tun Schriftsteller, Übersetzer und Schmuggler eigentlich ein und dasselbe – sie übersetzen, das heißt sie überführen und übertragen das Gewünschte, Wertvolle, Fehlende, Unterdrückte, Verbotene.
Erlauben Sie mir, Ihnen die Geschichte zu erzählen, wie ich zum ersten Mal etwas geschrieben habe, obwohl «aufgeschrieben» es wohl besser treffen würde. Im Alter von sechs, sieben Jahren hatte ich einen Albtraum, der sich zu allem Überfluss jede Nacht wiederholte. Je mehr ich mich davor fürchtete, ihn wieder zu träumen, desto öfter suchte er mich heim. Eines Morgens nahm ich all meinen Mut zusammen und wollte ihn meiner Großmutter erzählen, zu jener Zeit wohnte ich bei ihr. Aber als ich Anstalten machte zu erzählen, legte sie mir einen Finger auf die Lippen. Die schlimmen Träume darf man nicht erzählen, sagte sie zu mir, weil sie sonst Wirklichkeit werden. Eigentlich drückte sie es viel schöner aus: Sie füllen sich mit Blut und erwachen zum Leben.
So blieb ich allein mit meinem Albtraum, weder konnte ich ihn erzählen, noch konnte ich weiter schweigen. Und dann kam mir die geniale, so scheint mir, Idee (nur mit sechs oder sieben können wir genial sein), den Traum irgendwo aufzuschreiben. Ich riss heimlich eine Seite aus Großvaters Notizheft, und mit den soeben gelernten Buchstaben des Alphabets, ziemlich hässlich hingekritzelt, schrieb ich meinen Traum auf. Und siehe da, das Wunder geschah. Nie mehr wieder träumte ich diesen Albtraum. Aber ich vergaß ihn auch niemals wieder. Das war der Preis. (Ich erinnere mich auch heute noch daran, 50 Jahre später, und wenn Sie wollen, kann ich ihn Ihnen später erzählen.)
Aber zurück zu unserem Thema, was habe ich damit eigentlich getan? Ich habe meinen Albtraum übertragen, ich habe ihn aus der Zone des Traums herausgenommen und ans Licht gebracht. Ich habe ihn aus dem Dunkel übersetzt, aus der Tiefe der Nacht auf ein weißes Blatt Papier überführt. Und wie wir wissen, ist das Schreckliche im Tageslicht nicht mehr gar so schrecklich. Ich werde es noch einmal sagen – am Anfang des Schreibens steht genau solch eine Übersetzung aus einer Welt (im unserem Fall des Traums oder des Unsichtbaren) in eine andere, sichtbare Welt. Erlauben Sie mir noch diese Analogie: Anders als Charon, der die Seelen mit einem Boot über den Fluss Lethe ins Reich der Toten übersetzt, übersetzt oder bringt das Schreiben in umgekehrter Richtung die Seelen der Toten ins Reich der lebenden Lesenden zurück.
So oder so müssen wir uns eingestehen, dass jeder Schriftsteller ein heimlicher Übersetzer ist.
Ich habe immer daran geglaubt, dass Literatur einfache, aber lebenswichtige Dinge vollbringen kann. Meine frühe Erfahrung mit dem Traum hat mich gelehrt, dass wir im Erzählen die Ungeheuer des Schreckens Stück für Stück zähmen können. Wahrscheinlich erzählen wir deshalb unseren Kindern abends, bevor sie einschlafen, Geschichten. Aus demselben Grund existieren Mythen. So ist es auch bei meinem Lieblingsbeispiel mit Scheherazade – du erzählst eine Geschichte und schiebst den Tod um einen weiteren Tag auf. Bis am Ende das Opium dieser Geschichten bei deinem potenziellen Mörder Schahriyar Wirkung zeigt und ihn dazu bringt, zuerst Neugier und dann Liebe zu empfinden. (Im Bulgarischen sind die Wörter Neugier любопитство [ljubopitstvo] und Liebe любов [ljubov] übrigens etymologisch eng miteinander verbunden, ähnlich wie im Deutschen Neugier und Begehren).
Erst kürzlich unterhielt ich mich mit Marie Vrinat-Nikolov, meiner Übersetzerin ins Französische und, so wage ich zu behaupten, Freundin (übrigens stammt eine der ersten Übersetzungen meiner Bücher von ihr, nämlichen die des Natürlichen Romans). Wir kamen darauf zu sprechen, wie wenig wir beide von dieser strikten Dichotomie «lokal – global» halten. (Nebenbei bemerkt finde ich alle Dichotomien verdächtig und grob vereinfachend.) Man könnte leicht in Versuchung geraten zu sagen: Macht denn die Übersetzung nicht gerade das, das Lokale in Globales zu verwandeln? Doch man würde irren. Eine Übersetzung ist nicht dazu da, eine lokale Geschichte in eine globale zu transformieren. (Wie sie auch einen schwachen Text nicht in einen starken «übersetzen» kann. Obwohl mir schwache Werke untergekommen sind, die in Übersetzung ein wenig besser klingen, aber nur wenige.) Als handelte es sich um eine falsche Alchemie.
Ich ziehe es vor, dass meine Texte nicht in die Opposition lokal-global fallen, sondern frei sind, sie auf den Kopf zu stellen. Denn unsere Texte sind immer persönlich. Und das Persönliche liegt jenseits dieser elementaren Zweiteilung. Ich schreibe aus einer Position des Schmerzes heraus oder ausgehend von etwas in mir, das mich dazu zwingt, nach Worten zu suchen, um es zu beschreiben – Beunruhigung, Unverständnis für die Welt und für mich selbst, Empathie, Verzweiflung, das Glücksgefühl der Zusammengehörigkeit. Ein Übersetzer übersetzt diese persönlichen Gefühle durch seinen Körper, seinen Verstand und sein Herz, wobei er das Persönliche mit derselben Emotion bewahrt. Ich kann mir keinen Übersetzer vorstellen, der nicht emotional ist, während er einen Text übersetzt. Überlasst die Texte, die euch nicht berühren, der Künstlichen Intelligenz! Und das wird womöglich auch der entscheidende Unterschied sein, ein besonderer Test, der sofort zeigt, wer eine Übersetzung angefertigt hat – Mensch oder Maschine. Solange die Maschinen nicht gelernt haben, emotional zu sein, wird die Rührung unser Erkennungszeichen des Menschlichen sein.
Ich habe mich immer mit meinen Übersetzerinnen und Übersetzern angefreundet. Vielleicht, weil zwischen uns eine Geschichte steht, die nicht nur für mich persönlichen ist, sondern auch für sie. Ich habe eine Reihe von Geschichten darüber gesammelt, wie das Buch, an dem eine Übersetzerin oder ein Übersetzer arbeitet, sich plötzlich mit dem synchronisiert, was in ihrem oder seinem Leben geschieht. Ich sage das ohne eine Spur von Mystizismus, das ist einfach Teil der kleinen Wunder, die Literatur vollbringt.
Wo wir schon Gefühle und Emotionen erwähnt haben, lassen Sie uns noch einen Schritt weitergehen – ich denke nicht, dass eine gute Übersetzung ohne Empathie möglich ist. (Und hier haben wir noch einen Unterschied zur Künstlichen Intelligenz.) Mit Physik der Schwermut habe ich der Empathie einen ganzen Roman gewidmet, aber hier würde ich gern auch noch eine andere Perspektive bemühen. Empathie ist dieses essenzielle Minimum, ohne das wir keine Geschichte schreiben können. Mit ihrer Hilfe schlüpft der Schriftsteller in all seine Figuren hinein und erzählt sie, erschafft sie durch seinen eigenen Körper.
Auch der wahre Akt des Lesens ist ohne Empathie unmöglich – ein Lesen, das das Geschriebene wirklich miterlebt. Nur der empathische Leser verwandelt das Gelesene in Erlebtes, und dies ist die entscheidende Transformation: Indem er die emotionalen Erfahrungen des fiktionalen Helden durchlebt, sammelt er eigene emotionale Erfahrungen. Dasselbe gilt auch für den Übersetzer, der zwischen den Worten des Schriftstellers und den in einer anderen Sprache Lesenden vermittelt. Wer übersetzt benötigt dieselbe Stufe an Empathie, ich würde sogar sagen Empathie zum Quadrat, um das vom Autor Geschriebene mitzuerleben, es aber auch in einem anderen kulturellen Kontext wiederzugeben, um auch die Empathie des Lesers zu wecken. Das ist Empathie in zwei Sprachen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, allen Übersetzerinnen und Übersetzern zu danken, einschließlich meinen, die diese Kunst der Empathie beherrschen. Ich weiß, dass sie viel von einem verlangt, aber einem gleichzeitig auch viel gibt.
Warum sind gerade heute Übersetzungen und Literatur in Übersetzung so wichtig?
Wir können unmöglich die Augen vor der Zeit verschießen, in der wir leben – eine Zeit der Kriege, des Populismus und der Aggression. Eine Zeit der falschen Erzählungen über den Menschen und die Welt. Wir wohnen einer großen Schlacht zwischen den Geschichten über die Welt und den Menschen bei. Und wir, die wir auf der Seite der Geschichten stehen, können unmöglich gleichgültig bleiben. Literatur, besonders in Übersetzung, ist ein natürliches Gegengift gegen Populismus und Propaganda. Literatur in Übersetzung gibt uns ein vollständiges Bild der Welt, das ganze Spektrum an Stimmen und Geschichten, nicht nur die dominierenden, sondern alle Erzählungen, einschließlich der unterdrückten und derer, die aus (gemessen an der Sprecherzahl) «kleinen» Sprachen kommen.
Wir leben in einer Welt, in der es kein Zentrum und keine Peripherie mehr gibt. Wenn wir eine Pandemie, einen Krieg oder eine Katastrophe erleben, liegt das Zentrum des Schmerzes überall. Heute blutet Europa im Osten, und deshalb können uns die Geschichten der Menschen aus diesem Teil der Welt mehr über diese Wunde sagen. Die Welt hat heute eine Vielzahl von pulsierenden Punkten des Schmerzes und der Kataklysmen, und die Übersetzung der Stimmen von dort, die Übersetzung der Geschichten von dort ist lebenswichtig, ich würde sogar sagen lebensrettend. Denn das, was dort schmerzt, schmerzt bereits überall. Die Welt ist längst zu einem Körper und einem großen Netz geworden. Und es ist dir, wenn du am einen Ende des Netzes bist, unmöglich, glücklich zu sein und ruhig zu bleiben, solange am anderen Ende des Netzes jemand nach Hilfe ruft.
Die Empathie, von der ich gesprochen habe, ist gegenwärtig auch politisch wichtig, wichtig für unser gemeinsames Überleben.
Ideologien und Fundamentalismus sind von Natur aus unfähig zur Empathie. Für sie ist der Andere ein Feind, dem sie die Menschlichkeit nehmen müssen. Weil das Menschliche zerstreut, ablenkt, nur eine Quelle der Schwäche und des Zauderns ist. Keine Menschen, keine Probleme, wie Stalin zynisch sagte. Gibt es nichts Menschliches, gibt es kein Problem – denken der Populismus und die Propaganda auch heute. Und das ist wahrscheinlich das Schrecklichste daran. Deshalb brauchen wir das Erzählen von Geschichten und Empathie. Das Übersetzen von Geschichten. Geschichten, die die Welt in ihrer ganzen Komplexität erzählen und nicht in der trügerischen Klarheit der Verschwörungstheorien. Geschichten, in denen der Andere als Mensch erzählt wird, mit seiner ganzen Verwundbarkeit und Zerbrechlichkeit, und nicht als entmenschlichter Feind. Die heimliche Stärke unserer persönlichen Geschichten ist, dass sie direkt mit dem Menschlichen arbeiten, das von Natur aus vor den Ideologien und vor dem Staat liegt.
Wir, die wir Literatur schreiben, übersetzen und lesen, wissen, ohne dass es uns jemand beigebracht hätte, von der verborgenen Kraft der Literatur, die durch das Erzählen von Geschichten Mitgefühl produziert, Empathie. Und wir wissen auch, dass in einer Welt mit einer Überproduktion an Hass und Spaltung das, was wir tun, bedeutet, das Ende aufzuschieben, um noch einen Tag, noch einen Monat, noch ein Jahr. Wie? Indem wir die Geschichten der Welt erzählen und übersetzen, Geschichten, die Empathie wecken, das Menschliche verteidigen und sich dem Zerfall widersetzen. Wir alle, Schriftsteller und Übersetzer, was sich als ein und dasselbe herausgestellt hat, versuchen, den Leser an der Hand zu nehmen und Schritt für Schritt und Seite für Seite ans Ufer eines weiteren Morgen überzusetzen.