S. Fischer Feb. 2025 22 € 160 S.
S. Fischer März 2024 25 € 400 S.
S. Fischer Sept. 2023 24 € 400 S.
I think the sirens in The Odyssey sang The Odyssey
for there is nothing more seductive, more terrible,
than the story of our own life, the one we do not
want to hear and will do anything to listen to.
—Mary Ruefle, Deconstruction
Dass Familien unglaublich komplexe Organismen sind, ist eine so offensichtliche Tatsache wie die, dass der Himmel blau ist, und wird doch überraschend oft unterschätzt. Wie alle gewinnorientierten Unternehmungen können Familien schwere Schäden anrichten. Die meisten Kinder passen sich ihren Eltern an, um zu überleben. In gewissen Familien muss man sich unsichtbar machen, in anderen zum High-Performer auflaufen, laut sein oder lustig, beruflich erfolgreich, akademisch brillant. Oder eben scheitern und zum Sündenbock werden, der die kollektiven Fehler der Familie auf sich nimmt, damit das System am Laufen bleibt.
In den vergangenen Jahren gab es in Fiction und Non-fiction einen anschwellenden Diskurs darüber, dass Familie nicht nur ein Ort persönlicher Dysfunktionalität ist, sondern eine ideologische Struktur, die systematisch Traumata produziert und reproduziert. Romane wie Gwendoline Rileys My Phantoms und Memoirs wie Harriet Browns Shadow Daughter schildern, wie emotional vertrackt und doch notwendig es ist, sich von narzisstischen oder übergriffigen Eltern loszusagen. In der Sachliteratur zeigt Joshua Colemans in Rules of Estrangement: Why Adult Children Cut Ties and How to Heal the Conflict die psychosozialen Kräfte hinter den familiären Entfremdungen empirisch auf und stellt die Prämisse in Frage, dass familiäre Bindungen um jeden Preis aufrechtzuerhalten seien. Trotz der wachsenden Zahl solcher Werke wird Kritik oder gar Ablehnung der eigenen Familie, wie sie in Sophie Lewis’ radikaler Forderung Abolish the Family gipfelte, kulturell noch immer als Verrat gewertet.
Kurz nachdem ich Vigdis Hjorths Romane Ein falsches Wort und Die Wahrheiten meiner Mutter gelesen hatte, stieß ich auf das Video eines Vortrags, den die Autorin in meiner Heimatstadt Tiflis auf einem Literaturfestival gehalten hatte. Georgien ist ein sehr familienorientiertes Land: Die Familie zu kritisieren, geschweige denn sie zu verleugnen, ist undenkbar. Egal, welches Unrecht sie dir angetan hat, in den Augen der georgischen Gesellschaft bist immer du selbst die Schuldige. Du bist einfach in Unterzahl, du bist unterlegen. Fairness und Wahrheit spielen keine Rolle. Wenn du es anders siehst, wird man dich eine Drama-Queen, eine Lügnerin und Geschichtenerzählerin nennen. Man wird darauf bestehen, dass die Angelegenheit zu «kompliziert» und dass Schuldzuweisungen keine Lösung seien. «Eltern sind nicht perfekt», wird man dir herablassend hinterhersagen, obwohl niemand, und erst recht nicht du, Perfektion erwartet. Die Protagonistin in Ein falsches Wort hört über sich sagen: «ich wüsste, ich zöge in den Krieg». Nur wenige Menschen werden bereit sein, in diesem «Krieg» an deiner Seite zu stehen.
In Georgien gibt es nicht viele Gegenerzählungen. Nana Ekvtimishvilis und Simon Groß’ My Happy Family von 2017 bietet eine seltene und scharfsinnige Kritik der traditionellen georgischen Familie – nicht durch Melodramatik, sondern durch den stillen und radikalen Akt einer Frau, die sich von ihrer Familie abwendet, um ihr Leben alleine fortzusetzen. Manana, eine Lehrerin in ihren Fünfzigern, verlässt ihren Mehrgenerationenhaushalt nicht aufgrund einer offenkundigen Katastrophe, eines Missbrauchs oder Skandals, sondern einfach, weil sie die Auslöschung ihres Selbst nicht länger ertragen kann. Der Film zeigt, wie leicht sich Überwachung, Verpflichtung und Unterdrückung der Individualität im Namen der kollektiven Harmonie als Liebe tarnen lassen. Mananas Weggang wird nicht etwa zu einem seismischen Bruch, weil er besonders dramatisch wäre, sondern weil er die unausgesprochene Regel bricht, dass die Identität einer Frau in der Pflicht aufzugehen hat, die Familie zusammenzuhalten.