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Im Juni 2024 besuchte ich Israel zum ersten Mal seit dem Überfall der Hamas vom 7. Oktober und dem anschließenden Angriff der IDF auf Gaza. Seither – seit diesem Moment – bin ich entsetzt, aber auch fasziniert von der außergewöhnlichen Fähigkeit so vieler Israelis, die systematische Auslöschung des Gazastreifens und der dort lebenden Palästinenser zugleich zu rechtfertigen und zu leugnen, zu ignorieren und bewusst aus ihren Gesprächen und Gedanken zu verbannen.

Diese Reaktion ist nicht singulär. In einer Bevölkerung, die sich auch dann noch als Opfer sieht, wenn sie kollektiv in einen Völkermord verstrickt ist – in einen Genozid, der in ihrem Namen und von Soldatinnen und Soldaten begangen wird, die zugleich ihre Söhne und Töchter, ihre Enkelkinder, Ehepartner oder Eltern sind –, ist sie nicht einmal besonders überraschend. Da ich aber in Israel aufgewachsen bin, selbst in den israelischen Streitkräften gedient und Familie und Freunde in diesem Land habe, sind mein Entsetzen und meine Bestürzung auf schmerzhafte Weise persönlich.

Die längste Zeit meiner akademischen Laufbahn habe ich damit verbracht, Prozesse kollektiver Leugnung zu studieren. Ich kann deshalb die historischen Muster erkennen, in die die israelischen Reaktionen sich einfügen. In den 1980er Jahren befasste ich mich mit der letzten großen Leugnung der Nachkriegszeit in Deutschland, dem Mythos der sauberen Wehrmacht. Nachdem sie sich über Jahrzehnte als Hitlers größte Opfer gesehen hatten, begannen die Deutschen allmählich, ihre Verantwortung für den Holocaust anzunehmen. Aber sie glaubten noch immer, dass gewöhnliche deutsche Soldaten in Osteuropa, anders als die Gestapo oder SS, einen vielleicht nicht notwendigen oder gerechten, aber doch anständigen Krieg gegen die Rote Armee gekämpft hatten, der Europa vor einem «bolschewistisch-asiatischen Ansturm» hatte schützen sollen. Dieser Denkweise zufolge hatte die Wehrmacht wenig mit den schrecklichen Verbrechen zu tun, die hinter ihrem Rücken begangen wurden.

Die Schlächter der Erinnerung

Es dauerte ein weiteres Jahrzehnt, bis die Deutschen anerkannten, wie tief ihre eigenen Väter und Großväter in einen verbrecherischen Krieg verstrickt gewesen waren, in dem etwa 26 Millionen sowjetische Bürger getötet wurden, die meisten davon Zivilisten, darunter eine große Zahl von Juden. Anfang der 1990er Jahre dann begann ich mich zunehmend für den Holocaust zu interessieren. Meine erster wissenschaftlicher Artikel war eine Rezension mehrerer wichtiger Bücher aus dieser Zeit, darunter Die Schlächter der Erinnerung – Essays über den Revisionismus des brillanten jüdisch-französischen Historikers Pierre Vidal-Naquet, ursprünglich 1987 erschienen.

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Vidal-Naquet analysiert darin das weit verbreitete Phänomen des «Revisionismus», in Frankreich als négationnisme bekannt, der darauf abzielt, den Holocaust zu leugnen oder zu verharmlosen. Dabei handelte es sich keineswegs nur um eine Tendenz unter Rechten oder Neonazis. In den 1970er und 80er Jahren war die Holocaustleugnung eine Art intellektuelle und akademische Modeerscheinung, verkörpert durch den Literaturwissenschaftler Robert Faurisson, der seine Technik der Textanalyse anwandte, um die Existenz von Gaskammern abzustreiten. 1990 verabschiedete die französische Nationalversammlung das sogenannte Gayssot-Gesetz, das die Leugnung der Nazi-Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Strafe stellte. Dennoch gibt es in der französischen Wissenschaft nach wie vor Fälle von Negationismus.

Wie der Historiker Henry Rousso 2006 hervorhob, war Frankreich das einzige Land, in dem die Holocaustleugnung zu einem öffentlichen Thema und zum Anlass von Debatten, gesetzlichen Maßnahmen und Gerichtsverfahren wurde. Die Leugner fanden Unterstützung bei der extremen Rechten und am Rande der extremen Linken, wo auch der Antisemitismus eine Renaissance erlebte. Dass an französischen Universitäten negationistische Argumente kursierten, gab ihnen eine gewisse akademische Anerkennung, auch weil die «Revisionisten» den Status der Wahrheit in der Geschichte hinterfragten und die Möglichkeit aufwarfen, dass unterschiedliche Interpretationen der Vergangenheit, einschließlich des Holocausts, gleich wahr sein konnten.