Die Schüsse wurden im Vorbeigehen abgefeuert. Der erste traf, der zweite ging daneben. Es war kurz vor Mitternacht in einem Februar, und das ältere Ehepaar schlenderte nichtsahnend vom Kino Grand nach Hause. Die beiden hatten sich dort gerade die Komödie Die Brüder Mozart angesehen. Stockholm war still, kalt und schneebedeckt. Die erste Kugel ging ihm durch die Wirbelsäule, zertrennte seine Luft- und seine Speiseröhre und tötete ihn sofort. Dass die zweite Kugel sie am Rücken streifte, bemerkte sie im Schockzustand nicht. Es war 1986, und das Verbrechen wurde über Taxifunk gemeldet. Ein Fahrer hatte den Doppelknall gehört und sprach in sein Radio: «Schusswechsel an der Ecke Sveavägen/Tunnelgatan».
Die Zentrale gab das Signal weiter, und am anderen Ende der Stadt sprang ein weiterer Taxifahrer aus seinem Wagen, um eine vorbeifahrende Polizeistreife zu alarmieren. Der Mann, der nun dort in seinem Blut lag, die Russenmütze wie eine übergroße Krone auf dem Kopf, war Zeit seines Lebens ein bärbeißiger Moralist gewesen, ein gewissenhafter Machtmensch, blitzgescheit und arrogant, vielleicht zu arrogant für sein eigenes Wohl. Als die Polizei eintraf und die ersten rudimentären Fragen stellte, schrie die Witwe einen Beamten an: «Bist du nicht bei Trost? Erkennst du nicht, wer ich bin?» Der Beamte stockte. «Ich bin Lisbeth Palme. Das ist Olof, der da liegt.»
Elf Jahre zuvor, 1975, war ein namenloser Premierminister auf den Buchseiten eines schwedischen Bestsellers auf offener Straße erschossen worden. Jetzt war Palme wirklich tot. Die Realität hatte den Roman eingeholt.
«Es ist grauenhaft, in einer Welt zu leben, in der sich alle gegenseitig anlügen. Aber alle glauben ja, lügen zu müssen, um in diesem Leben durchzukommen, und wenn diejenigen, die am meisten zu sagen haben und anderen Anweisungen geben können, was sie zu tun haben, am allermeisten lügen, dann muss es wohl so werden.» Es war im letzten der zehn Teile ihrer Serie Roman über ein Verbrechen, dass Maj Sjöwall und Per Wahlöö der Attentäterin des Premierministers diese Worte in den Mund legten. Sjöwall und Wahlöö waren zwei marxistische Journalist:innen aus gehobenen Familien, die 1962 ein Paar und 1965 die Erfinder:innen dessen geworden waren, was man in Deutschland den Schwedenkrimi nennt.
Kriminalromane aus Schweden hatte es schon vorher zahlreiche gegeben, aber sie standen in der bürgerlichen, britischen Tradition, in der Motiv und Milieu nur über ihre Funktion im literarischen Puzzlespiel Bedeutung erhalten. Sjöwall/Wahlöö hingegen orientierten sich an einem amerikanischen Groschenliteraten mit dem Pseudonym Ed McBain. (Elf von Ed McBains 118 Romanen übertrugen sie selbst ins Schwedische.) Sie übernahmen seinen ausgekochten Realismus, ergänzten seinen lakonischen Spott über die Gesellschaft um eine marxistisch geschulte Kritik an ihr und tauschten seine hartgesottenen Ermittler gegen einen abgekämpften schwedischen Melancholiker mit Namen Martin Beck aus, dessen Hauptmerkmale sind, dass seine Frau sich von ihm scheiden lässt und dass er mit Waffen nichts anzufangen weiß.
Sjöwall und Walhöö waren keine Socializer – ihr antisozialer Ruf eilte ihnen voraus –, aber sie waren ein diszipliniertes, höchst funktionstüchtiges Arbeitsgespann: Von 1965 bis 1975 produzierten sie je einen Roman pro Jahr, 15 Kapitel pro Buch schrieb sie, 15 schrieb er. Sie unterhielten Insiderkontakte zur Polizei, um die Ermittlungsarbeit so wahrheitsgetreu wie möglich schildern zu können, auch wenn die Verbrechen in ihren Romanen immer etwas übertrieben wirkten. Kurz nach Vollendung der Dekalogie starb Per Wahlöö an seiner Alkoholkrankheit, und um den Schwedenkrimi wurde es still. Bis zur Ermordung Olof Palmes zeichneten sich keine Nachfolger ab.
Das Reich zittert
Das Attentat auf den Premierminister löste nicht nur eine der längsten, teuersten und peinlichsten Mordermittlungen der europäischen Kriminalgeschichte aus (600 Millionen Schwedische Kronen, das hieße nach aktuellem Kurs 51,7 Millionen Euro, soll sie gekostet haben, tausende Zeugen wurden verhört, eine falsche Spur nach der nächsten an die Öffentlichkeit durchgestochen und doch kein Mörder dingfest gemacht). Es erschütterte auch die Grundfesten dessen, was man in Schweden monarchistisch das Reich (riket) oder sozialdemokratisch das Volksheim (folkshemmet) nennt. Palmes Ermordung war, wenn man dem Historiker Göran Hägg glauben mag, der Anfang vom Ende einer Epoche.
Die Schilderungen darüber, wie die Schweden nach dem Mord ihr Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit (trygghet) verloren, wie sie aufhörten, ihre Schlitten auf die Veranda zu stellen und stattdessen anfingen, ihre Haustüren abzuschließen, sind Legion. Aber nicht nur die trygghet sollte verschwinden. Schweden genoss in der Zeit von 1945 bis 1986, die Hägg in seinem gleichnamigen Buch Die Wohlfahrtsjahre nennt, eine immense politische Bedeutung und ein internationales Ansehen, höchst erstaunlich für ein derart bevölkerungsarmes Land auf dem dunklen und kalten Dachboden Europas.
Hägg vergleicht die Wohlfahrtsjahre mit der kurzlebigen «Großmachtszeit» während des Dreißigjährigen Krieges und schreibt: «Genau wie im 17. Jahrhundert wurde das schwedische Beispiel von außen entweder bewundert oder beargwöhnt. Während der Großmachtszeit galt die schwedische Monarchie als Anführerin der protestantischen Staaten und Beschützerin der Luther’schen Lehre. In der Wohlfahrtszeit galt die schwedische Demokratie als Vorreiterin in Sachen sozialer Gerechtigkeit, ökonomischer Chancengleichheit und allgemeiner Lebensstandard, und darüber hinaus als führend unter den neutralen Ländern des Westens in Fragen der Friedensarbeit und humanitärer Einsätze. Ein eigentümlicher Beweis dafür, wie Reste dieses Bildes sich noch lange in der Weltöffentlichkeit verfangen haben, war 2004 die Äußerung des Terroristenführers Osama Bin Laden, in der er die USA und Präsident Bush mit den Worten ‹Lassen Sie mich erklären, warum wir nicht zum Beispiel Schweden angegriffen haben› attackierte.»
Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sich im von Kampfhandlungen unversehrten Schweden eine Situation ergeben, in der die Sozialdemokraten, die seit 1936 kontinuierlich an der Macht gewesen waren, den angestrebten egalitären Umbau der Gesellschaft endlich umsetzen konnten. Eine Bildungsexplosion und eine beispiellose Vermischung der sozialen Schichten war die Folge. Für den Ruf Schwedens als außenpolitische «moralische Supermacht» war unser Mordopfer, Olof Palme, zweifacher Premier von 1969 bis 1976 und von 1982 bis zu seinem Tod, maßgeblich verantwortlich. Er begriff die schwedische Bündnisfreiheit nicht als Verpflichtung, schweizerisch neutral zu Gräueltaten die Klappe zu halten, wie es während des Zweiten Weltkriegs unter dem Slogan «Ein Schwede schweigt» (En svensk tiger) üblich gewesen war. Er verstand sie als Freibrief, nach allen Seiten auszuteilen.
Francos Regime in Spanien nannte Palme eine «verdammte Mörderbande» (satans mördare), die kommunistische Regierung der Tschechoslowakei ein «Viehzeug der Diktatur» (diktaturens kreatur). Die Bombardierung Vietnams stellte er in eine Reihe mit den Verbrechen der Nazis und legte damit die diplomatischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten ein Jahr lang auf Eis. Palme war der erste westliche Regierungschef, der Fidel Castro in Kuba besuchte, und der erste, der sich mit Yassir Arafat traf. Eine Vielzahl antikolonialer Befreiungsbewegungen auf der ganzen Welt erhielten unter seiner Ägide politische und finanzielle Unterstützung, zum Beispiel der ANC in Südafrika, die Sandinisten in Nicaragua und die palästinensische Befreiungsorganisation PLO.
Palmes Tod raubte den Schweden, je nach Gesinnung, entweder ihren größten Staatsmann oder ihre liebste Hassfigur. Aus Panik über die schlechten Wahlergebnisse und aus Angst, den Anschluss an die sich rasant neoliberalisierende Weltwirtschaft zu verlieren, begannen die kopflosen Sozialdemokraten 1988 mit dem Kahlschlag des Wohlfahrtsstaats. 1989 fiel die Mauer: Das Spielfeld, auf dem Schweden sich international so gut hatte profilieren können, war Geschichte. 1995 folgte der Beitritt zur Europäischen Union, und mit der Bündnisfreiheit war es vorbei. Bei Henning Mankell ist später zu lesen: «Man sagt, dass Schweden langsam und schleichend das Gesicht wechselte.»
Kurt Wallander und «die Veränderung»
«Danke für die Inspiration» – das hätte der Attentäter Palmes, wer auch immer es war, an Maj Sjöwall schreiben können: Tatsächlich war es Henning Mankell, der ihr bei Erscheinen seines ersten Wallander-Krimis 1991 ein so gewidmetes Exemplar zusandte. Sjöwall, zunächst geschmeichelt, bekundete später, sie sei kein Fan der Wallander-Romane. Sie fand sie überdeutlich, humorlos und viel zu brutal. Kurt Wallander ist noch viel depressiver als sein Vorgänger Martin Beck, neben einer Scheidung plagen ihn Diabetes, Insomnie und Amnesie, außerdem hat er versehentlich im Dienst jemanden erschossen. Das feine Gespür fürs Detail und die sozialkritische Stoßrichtung sind geblieben – es geht unter anderem um Ausländerfeindlichkeit (Mörder ohne Gesicht), skrupellose Superreiche (Der Mann, der lächelte) und Zwangsprostitution (Die fünfte Frau) –, doch der hintersinnige Humor, der bei Sjöwall/Wahlöö noch die Mordszenen zu leichtfüßig-morbidem Slapstick werden lässt (eines ihrer Opfer sagt «Aua, das tut weh», bevor es mit seinem Kopf in die Spaghetti sinkt), ist an den Schlüsselstellen verschwunden und flackert auch in Nebenszenen nur noch sporadisch auf.
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