Blue RuinHari Kunzru übers. v. Nicolai von Schweder-Schreiner
LiebeskindMay 2024 €24 344 S.

Als Hari Kunzru während einer kleinen Lesung seines neuen Buches im schicken Downtown Brooklyn gefragt wurde, warum er Romane statt kritischer Theorie schreibe, antwortete er, sein Werk werde von einer Frage getrieben, von der er selbst nicht genau wisse, wie sie zu stellen sei. Würde er wissen, wie man das Anliegen seines Buches als Frage formuliert – es enthält eine literarische Studie des sozialen Milieus der Gegenwartskunst –, dann wäre Blue Ruin gar kein Roman geworden.

Fragen, von denen man nicht weiß, wie sie zu stellen sind, kann man nicht im Modus der Antwort bearbeiten. Sie erfordern eine künstlerische Montage, in der theoretische Überlegungen und philosophische Begriffsarbeit lose ineinanderfließen – so lautete schon eine Einsicht Adornos und Benjamins. Kunzrus schnörkellose Sprache und der klassische Aufbau seines Buches als pandemiebedingtes Kammerspiel zeigen jedoch, dass ihm nicht unbedingt an einer formalen Reflexion über die literarischen Darstellungsmöglichkeiten der herrschenden Verhältnisse gelegen ist. Eher interessiert Kunzru sich für die inhaltlich feinfühlige Rekonstruktion der Arten und Weisen, wie Hierarchien von Race, Gender und allen voran sozialer Klasse sich in der notorisch elusiven Welt der Gegenwartskunst abbilden.

Die Pandemie als Zeitkapsel

Kunzru erzählt die Geschichte von drei Protagonist:innen, die sich nach rund zwanzig Jahren Funkstille per Zufall während des ersten Lockdowns im Mai 2020 wiedertreffen. Geschildert wird ihre Begegnung aus der Perspektive Jays, dem nach seinem Abschluss an einer renommierten Kunsthochschule in London eine große Karriere vorausgesagt wurde, die sich allerdings nicht realisiert hat. Ohne Papiere lebt er jetzt in seinem Auto und hält sich mit Gigs für Lieferapps im wohlhabenden Upstate New York über Wasser.

Als Jay nach einer frühen, nur knapp überstandenen Covid-Infektion Lebensmittel in ein luxuriöses Anwesen mitten in einem privaten Waldgebiet zustellt, wird er mit seiner zerstörerischen Vergangenheit konfrontiert. Es ist Alice, seine Exfreundin aus der Kunstschulzeit, die die Tüten, ausgestattet mit Visier und OP-Handschuhen, entgegennimmt. Als sie Jays desolaten Gesundheitszustand erkennt, lädt sie ihn ein, sich in einer Scheune auf dem Grundstück zu verstecken, wo sich neben ihrem Mann Rob, für den sie Jay vor vielen Jahren verlassen hatte, auch ein exzentrischer Galerist und dessen junge Freundin isolieren.

Es folgt ein Rückblick in die Londoner Kunstszene der späten 1990er-Jahre. Damals herrschten Ekstase und Ausnahmezustand: Die YBAs (Young British Artists) wurden in kurzer Zeit extrem erfolgreich, das runtergerockte East London stand weitgehend leer, Häuser wurden besetzt, temporäre Galerien eröffnet und ausufernde Partys mit Künstler:innen gefeiert, die heute weltberühmt sind. Es war die kurze Zeit von Cool Britannia: Nach achtzehn Jahren konservativer Regierung kam mit Tony Blair erstmals wieder Labour an die Macht, der gespannt erwartete Umbruch des Millenniums stand an, und in der Luft lag das Gefühl eines geteilten Optimismus, der sich mit Blick auf den heutigen Zerfall des Vereinigten Königreichs nur schwer nachfühlen lässt.

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Jay ist Teil dieser Szene. Gemeinsam mit Alice und seinem besten Freund Rob wirkt er an einer Fabrikbesetzung namens Fancy Goods mit, die an Tracey Emin und Sarah Lucas’ The Shop erinnert. Trotz «einer idealistischen, von Alice verfassten Pressemitteilung, in der von partizipatorischen Erfahrungen und der Suche nach einer Außenperspektive zu kapitalistischen Tauschmodellen die Rede war», versuchen sie, ihre Kunst an wohlhabende Galerist:innen und Sammler:innen zu verkaufen. Angeekelt vom Opportunismus seiner Kamerad:innen – insbesondere seines Freundes Rob, dem Jay mit Referenz auf Marcel Duchamp eine reduktionistische Ausrichtung seiner Malerei auf «visuelles Wohlgefallen» und die Livingroomability großformatiger Gemälde vorwirft –, versinken Jay und Alice in einem Sumpf von Drogenexzessen und Arbeitsverweigerung, aus dem Alice letztlich nur herausfindet, indem sie Jay von einem Tag auf den anderen verlässt – für Rob.