illiberal artsAnselm Franke und Kerstin Stakemeier (Hg.)
b_booksSep 2021 €34 476 S.
«Ästhetik und Arbeiterschaft»: Lu Märtens Entwurf der kritischen KonsumentinStephanie Marchal und Kathrin Rottmann
edition metzelJan 2023 €19 151 S.

Wir wissen, dass es einen ökonomischen und einen politischen Liberalismus gibt, aber gibt es auch einen ästhetischen?

In der Geschichte der Ästhetik taucht der Begriff nicht auf, aber was er bezeichnet, lässt sich analog zu seiner Verwendungsweise im politischen und ökonomischen Denken verstehen. Demnach wären die Kunst und das Schöne, seit sie nicht mehr dem Dienst an Kult und Religion verpflichtet sind, bestimmte Realisierungsweisen von individueller Freiheit, die zugleich das soziale Allgemeinwohl befördern. Karl Marx’ historischer Materialismus unternahm die Kritik dieser Vorstellung in Bezug auf die vermeintliche Freiheit ökonomischen und politischen Handelns. Marx vertrat die Ansicht, dass die Freiheit der Individuen in der kapitalistischen Moderne in Wahrheit nur der ideologische Ausdruck von Herrschaftsverhältnissen und sozialen Ausschlussmechanismen sei, die bestimmten materiellen und historischen Gesetzmäßigkeiten folgen.

Die deutsche Kunsthistorikerin und Schriftstellerin Lu Märten (1879–1970) kann als eine der ersten Theoretiker:innen gelten, die den Versuch unternommen haben, diese Kritik des Liberalismus auf die modernen Freiheitsnarrative der Kunst zu übertragen. Anders als viele ihrer marxistischen Zeitgenoss:innen ging sie nicht davon aus, dass Kunstwerke und kulturelle Artefakte ideologische Widerspiegelungen ökonomischer Produktionsverhältnisse sind. Vielmehr wollte sie Marx’ historisch-materialistische Methode auf die Geschichte der Kunst selbst anwenden, der sie eine eigene Basis und einen eigenen Überbau zusprach. Märten praktizierte Kunstwissenschaft als Kritik des ästhetischen Liberalismus.

Als dessen zentrales Element machte sie die moderne Trennung der ästhetischen Praxis von lebenspraktischen Zusammenhängen aus, sie führe zur Absonderung des Kunstwerks als «eine Sonderfunktion, eine Ware, ein Ding, das irgendwo außerhalb des Alltags existiert». Gegen die Exklusivität und Abgeschiedenheit der bürgerlichen Kunstfreiheit hielt Märten einen erweiterten Begriff ästhetischer Praxis, der sämtliche Kollektivformen menschlicher Gestaltung in Alltag und Arbeit umfassen kann. Die Wissenschaft der Ästhetik müsse sich der ästhetischen «Lebensarbeit» und dem «Lebensausdruck aller» zuwenden.

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Insofern Märten die Wiedereingliederung der künstlerischen Praxis in das «Leben», den «Alltag» oder die «Gemeinschaft» forderte, deckt sich ihre Kritik des ästhetischen Liberalismus mit der vitalistischen Rhetorik der künstlerischen und kunstgewerblichen Reform- und Avantgardebewegungen, zu der sie auch persönliche Beziehungen unterhielt. Im Unterschied zu den Avantgarden jedoch, bei denen «Leben» oder «Volk» häufig als mythische – und nationalistisch gefärbte – Gebilde vorkommen, statt als soziale Tatsachen, legt Märten ihrem erweiterten Kunstbegriff eine Analyse der konkreten Ausschluss- und Herrschaftsmechanismen von Klasse und Geschlecht zugrunde, welche von der bürgerlichen Kunst zugleich produziert und ideologisch verschleiert werden.

Märtens Interesse galt nicht «dem Volk», sondern der kollektiven Masse der weiblichen Produzierenden. Ihr Thema war, wie sie in Ästhetik und Arbeiterschaft schrieb, die «mühsame, viel zu wenig gewürdigte ästhetische Arbeit der Frauen», welche aus der Männerdomäne der akademischen und der modernen Kunst in die unbezahlte Haushaltsarbeit oder das schlecht bezahlte Kunstgewerbe verbannt wurden. Märtens wissenschaftliche Arbeit war demnach nie reiner Selbstzweck, sondern unmittelbar in politische Kontexte eingebunden, namentlich in die des revolutionären Feminismus und Sozialismus.