Ullstein Jan 2017 z.Z. nicht lieferbar 304 S.
Im August 2024, auf einer Recherchereise durch den Rust Belt der USA, bin ich gemeinsam mit dem Fotografen Milan Koch nach Middletown, Ohio, gefahren. Wir wollten in die Stadt, in der der republikanische Vizepräsidentschaftskandidat J.D. Vance seine Kindheit und Jugend verbracht hat, bevor er mit neunzehn Jahren zu den US-Marines ging. In der McKinley Street, wo J.D.s altes Haus steht, reihen sich einfache, aber ordentliche Häuser mit typisch amerikanischen Veranden aneinander. Wir klingelten, eine junge Frau machte uns auf und fragte, ob sie uns helfen könne. Als Amanda das Haus vor einigen Jahren angemietet hatte, wusste sie nicht, wo sie da eingezogen war – bis im Juli dieses Jahres Reporter in ihrem Vorgarten standen, die wissen wollten, wie J.D. Vance als kleiner Junge gewesen sei und ob das alles stimme, was er in seinem Buch über diese Gegend geschrieben hat: «Die Leute leben hier von Paycheck zu Paycheck.» Sie zuckt mit den Achseln und verweist auf ihren Nachbarn, der ein Haus weiter wohnt und gerne mit der Presse spricht.
Jerry Dobbins trägt ein dunkelblaues Shirt seines ehemaligen Arbeitgebers Magellan Aerospace, das graumelierte Haar im akkuraten Kurzhaarschnitt und eine 70er-Jahre-Brille wie Al Pacino in Donnie Brasco. Er lädt uns nicht in sein Haus ein, sondern sucht sich im gegenüberliegenden Park eine Sitzbank und schiebt sie in den Schatten. Dobbins ist 1978 nach seiner ersten Scheidung hierhingezogen, wo auch seine Mutter und sein Stiefvater lebten. Sechs Jahre später, 1984, wurde J.D. geboren, kurz für James Donald. «Ich habe sie gesehen, als sie das Baby nach Hause brachten», behauptet Dobbins. «Den hoffentlich zukünftigen Vizepräsidenten.»
Dobbins ist sichtlich stolz, eine berühmte Person zu kennen und dadurch selbst ein wenig berühmt zu sein. Was weiß er über die Gewalt und die Drogen zuhause, von denen Vance geschrieben hat? Dobbins erzählt, dass er keine Klimaanlage habe und deswegen nachts bei offenem Fenster schlafe. «Ich hörte sie streiten, Bonnie und Jim», Vances Großeltern. Sie kamen in den 40er Jahren aus den Appalachen nach Middletown, um bei der großen Stahlfabrik Armco in Schichtarbeit zu gehen. Ihre Tochter Beverly arbeitete im Krankenhaus und fing dort selbst an, Schmerzmedikamente zu nehmen. Wenig später stahl sie die Pillen aus der Klinik.
Als Beverly sich nicht mehr um ihren Sohn J.D. kümmern konnte, wurde er von seiner Großmutter Bonnie großgezogen. Bonnie, die Vance in seinem Buch nur «Mamaw» nennt, muss kein besonders sanfter Mensch gewesen sein – «she cursed, threatened and was violent, at times», schreibt Vance –, aber sie trieb den kleinen J.D. an, etwas aus sich zu machen. Und das tat er. Nach der High School kamen die Marines, bei denen er sich für sechs Jahre als Kriegsberichterstatter verpflichtete (darunter sechs Monate im Irak). Dann ein Studium in Columbus, später Jura in Yale, dann ins Silicon Valley, wo er als Start-up-Investor an der Seite von Peter Thiel und anderen Karriere machte. Von ganz unten nach weit oben.
Vance hat seine Geschichte 2016 in dem Buch Hillbilly Elegy: A Memoir of a Family and Culture in Crisis aufgeschrieben (dt. Hillbilly-Elegie, 2017). Auch in Deutschland wurde diese Erzählung schnell zum Schlüsseltext für die Wahlerfolge von Donald Trump und anderen extrem rechten Formationen erklärt – interessanterweise oft zusammen mit Rückkehr nach Reims von Didier Eribon, der politisch aus einer ganz anderen Ecke kommt. Vance galt fortan als Sprachrohr der vergessenen weißen Arbeiterklasse des mittleren Amerika. Politisch zeigte er sich schon in Hillbilly Elegy als ein Republikaner von der Sorte, die man in Deutschland «wertkonservativ» nennt: Auf stabile Familienverhältnisse kommt es an, auf eine unnachgiebige Arbeitsethik, kirchliche Bindungen und eine tugendhafte Sexualmoral.
Trump, den frivolen New Yorker Immobilienunternehmer und Selbstdarsteller, kritisierte Vance 2016 als «most-raw expression of a massive finger pointed at other people»: als jemanden, der seine Herkunftsklasse beschämt. Einen «idiot» nannte er Trump, und noch einiges andere mehr. Doch als er 2021 bei der Senatswahl in seinem Heimatstaat Ohio antrat, wechselte Vance ins Trump-Lager, um seine Chancen zu verbessern, und siegte deutlich. Im Juli 2024, zwei Tage nach seiner Schussverletzung durch das Attentat von Butler, Pennsylvania, nominierte Trump ihn als seinen running mate. Im Kosmos der Trump-Kampagne hat Vance eine Doppelfunktion. Für die Masse performt er den moderaten, der Mittelklasse verbundenen Aufsteiger. Für die Investorenklasse ist er das Bindeglied zwischen den Silicon-Valley-Libertären und den rechten, oft fundamentalchristlichen Ideologen, die hinter dem Project 2025 stehen.
High nur im Auto
Am Sonntagvormittag sind die Straßen von Middletown leer, die Geschäfte geschlossen. Nur vor den vielen Kirchen steigen vereinzelt junge Familien aus dem Auto, die Kinder herausgeputzt für den Gottesdienst. «Autos sind hier wie Fußgänger», stellt Milan fest. Ihn irritiert die Zurückgezogenheit der Menschen. Kaum jemand auf den Straßen, niemand auf öffentlichen Plätzen. Vor den Fast-Food-Restaurants warten die Kunden in ihren Autos, bis sie ihre To-go-Tüte bekommen. Wenn wir jemanden high sehen, dann im Auto. Milan denkt, dass die Menschen hier Angst haben und sich deswegen ins Private zurückziehen. Später schauen wir im Hotelzimmer Fox News, wo den Amerikanern 24/7 eingehämmert wird, dass ihr Land dem Untergang geweiht ist. In Springfield essen sie Hunde und Katzen.
Middletown ist eine der älteren Städte Ohios, gegründet um 1800 in der Nähe des Miami River, der bei Cincinnati in den Ohio River mündet. Im Vergleich zu den angrenzenden Städten Dayton und Cincinnati ist Middletown weniger wichtig, eine Zwischenstadt eben, ein typisches Arbeitergebiet im Rust Belt. In den 40er und 50er Jahren prosperierte der Ort, bekam einen «All-America City Award», der seit 1949 an besonders lebhafte Gemeinschaften in suburbanen und ländlichen Gegenden vergeben wird. Es waren goldene Jahre. Eine Oper wurde gebaut, zwei Einkaufszentren, viele Villen, Restaurants und einige Bars, in denen sich die Stahlarbeiter nach Feierabend betranken. Die Stahlfabrik Armco war der größte Arbeitgeber, Arbeitskräfte aus den umliegenden Bundesstaaten mussten angeworben werden. Man fand sie in den Appalachen, deren zweitgrößtes Exportgut neben der Kohle schon damals die Menschen waren. So wie Vance’ Großeltern.
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