7 Oct 2025 - 16 Nov 2025
Zwischen dem Nova-Gelände im Süden Israels und seiner Nachbildung – der Wanderausstellung, die derzeit im Flughafen Tempelhof zu sehen ist – liegen vier Buchstaben: Gaza. Ich habe das Nova-Gelände Ende Dezember 2023 besucht. Dinge, die mir von dem Besuch im Kopf geblieben sind: zerschmolzene Autos, verstreute Kleidungsstücke. Am 7. Oktober 2023 wurden dort 344 Zivilist:innen ermordet und über 40 Menschen entführt. Schon damals diente das Gelände als improvisiertes Mahnmal. An in den Boden gerammten Eisenstangen waren Gesichter der Entführten befestigt. Anders als bei Mahnmälern aus Glas oder Stein, wo die Spuren dessen, woran erinnert wird, in ästhetische Distanz gerückt sind, lag die Wunde hier offen da. So offen, dass man meint, das Massaker, das die Hamas und andere Gruppen hier verübten, noch riechen zu können.
Im Hintergrund ertönte in regelmäßigen Abständen ein dumpfes Wummern. Erst kaum hörbar, dann lauter – aller Wahrscheinlichkeit nach Bombenabwürfe in Gaza. Wie Erinnern an einem Ort, wo das Erinnerte in unmittelbarer Nähe zur direkten Legitimation der Zerstörung der Lebensgrundlagen eines ganzen Volkes wird? Der Grenzzaun zu Gaza liegt von dort, wo das Nova-Festival stattfand, kaum sechs Kilometer entfernt, das sind etwa dreißig Minuten entspanntes Joggen oder fünf Minuten Autofahrt. Auf derselben Höhe liegt das Flüchtlingslager Bureij, wo sich der von Israel inzwischen vollständig zerstörte Norden Gazas vom kaum weniger zerstörten Süden trennt. Bureij ist heute eine Ruinenlandschaft. Auf Fotografien sind zwischen Resten eingestürzter Wände, orangener Erde und Schlamm kaum noch Konturen zu erkennen.
Die Nova-Ausstellung – im offiziellen Titel October 7, 06:29 AM – The Moment Music Stood Still – wurde erstmals Ende 2023 in Tel Aviv eröffnet und tourte seitdem durch die USA und Kanada (mit einem Abstecher nach Buenos Aires). Berlin, wo die Ausstellung am 7. Oktober im Flughafen Tempelhof eröffnete, ist die erste europäische Station. Von Gaza und allem, was vor oder nach Oktober 23 dort geschah, findet sich hier keine Spur. Es wirkt, als habe das Festival in einem Vakuum existiert, außerhalb weltlicher Parameter wie Geschichte und Geographie. Ebenso isoliert ist das Weltbild der Ausstellung. Anstelle von Verstehen tritt Mythologie, durchsetzt mit Versatzstücken aus Trance, Kabbala und Wellness-Esoterik. «Tausende strahlende Seelen kamen zusammen, um beim Nova Music Festival Liebe, Musik und Freude zu feiern», heißt es am Eingang.
Dem Licht der Tanzenden steht das Dunkel der Mörder gegenüber: Feinde der Lebenslust, Agenten des Todes. Es ist die altbekannte Licht/Finsternis-, Gut/Böse-, Zivilisation/Barbarei-Symbolik, die israelische Politiker und ihre Apologeten immer wieder bemüht haben, um die grenzenlose Zerstörung Gazas zu rechtfertigen. «Die Ereignisse des Nova», heißt es auf der Website der Ausstellung, «sind für die ganze Welt von Bedeutung.» Die Anschlussfähigkeit dieser Botschaft für Diskurse von Versicherheitlichung und Propaganda liegt auf der Hand.
Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass am Eröffnungsabend in Berlin Deutschlands Kulturstaatsminister Wolfram Weimer gemeinsam mit Israels Botschafter Ron Prosor, Axel-Springer-CEO Matthias Döpfner, dem Vorsitzenden der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Volker Beck und der israelischen Hasbara-Botschafterin Melody Sucharewicz durch die Ausstellung schreitet und sich dabei medienwirksam ablichten lässt. Die Agenda des Abends ist explizit pro-israelisch – und anti-palästinensisch.
«Mögen die Studenten in Berlins Hörsälen, die die Slogans der Hamas grölen, hierherkommen und für immer schweigen», ruft Sucharewicz ins Publikum, kurz bevor Bundestagspräsidentin Julia Klöckner ans Mikrofon tritt. Für immer schweigen? Unklar, was genau damit gemeint ist, zumal im Kontext einer öffentlich geförderten Ausstellung. Der Kampf gegen den «Todeskult der Hamas» sei noch lange nicht vorbei. Klöckner beklagt in ihrer Rede den grassierenden Antisemitismus im deutschen Kulturbetrieb, der nach dem 07. Oktober wie «ein Geist aus der Flasche» geschlüpft sei. Ähnlich klingt Ron Prosor, der die Schau als Mahnmal gegen Gleichgültigkeit preist.
Als das Berliner Stadtmagazin tip kürzlich eine Werbepartnerschaft mit der Nova Exhibition einging, erklärten mehrere freie Autor:innen und Angestellte des englischsprachigen Schwesterprojekts The Berliner (ehemals Exberliner), dass sie die kommende November-Ausgabe des Magazins bestreiken werden. Sie sehen in der Ausstellung eine politische Instrumentalisierung; eine Mobilmachung im Dienst der Zerstörung Gazas, die sie nicht mittragen wollen. «Wir können nicht für ein Magazin arbeiten, das einerseits Berichterstattung über Palästina einschränkt und zugleich Werbung für eine so politisch aufgeladene Ausstellung schaltet», sagte mir Nathaniel Flakin, der seit über 15 Jahren als freier Autor für das Magazin schreibt und dort eine Geschichtskolumne veröffentlicht. Sanders Isaac Bernstein, seit März 2023 Theaterredakteur des Magazins, sieht in der Ausstellung «eine gefährliche Manipulation von Erinnerung».
Authentizität durch Überwältigung
Die Nova Exhibition kombiniert Film, Requisiten und Originalobjekte: Toilettenhäuser mit Einschusslöchern, die zerstörte Festivalbar, ein nachgebauter Schutzbunker. Initiiert wurde das Projekt von den Nova-Gründern mit dem Designstudio Breeze Creative – einem Unternehmen, das auf seiner Website neben Museen und Freizeitparks auch die israelischen Rüstungsfirmen Elbit Systems und Rafael als Kunden nennt. Die Ausstellung, heißt es dort, sei eine «wegweisende Komponente israelischer Public Diplomacy». Trotz eines Eintrittspreises von 20 Euro flossen knapp 1,4 Millionen Euro öffentlicher Gelder in die Berliner Version. An oberster Stelle der Förderer wird Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner aufgeführt. Aber auch Bildungsministerin Karin Prien, die Axel Springer Freedom Foundation und diverse andere werden genannt.
Grob lässt sich die Ausstellung in drei Akte gliedern. Raum eins widmet sich dem Festival vor dem Angriff. «Der Rhythmus ist unsere Wurzel, die Bewegung unser Gebet, die Erinnerung pulsiert durch unseren Körper», heißt es am Eingang. «Wir sind der Tribe of Nova». Auf einer Film-Leinwand glitzern Tänzer:innen in Zeitlupe durchs Bild. «Wenn du am Nova ankommst, bist du schon erfüllt», sagt eine Besucherin in die Kamera. Andere erzählen von der «magischen Energie». Verstärkt durch die Kameraführung und Trance-Bässe wird man hineingezogen in das Festival als heile Welt.
Als das Video endet, reißt Raum zwei die Besucher:innen abrupt in den Abgrund dessen, was alle erwarten. Es folgt das Herzstück: Ein höhlenartig abgedunkelter Raum, Schreie, Chaos. Auf LED-Screens laufen Szenen des Angriffs durch Hamas und andere Gruppen: das Durchbrechen des Grenzzauns, «Allahu Akbar»-Rufe, Schüsse. Filmaufnahmen der Täter vermischen sich mit denen der Opfer. Wir sehen Menschen, die fliehen oder sich verstecken, Hilfseinheiten, die Leichen bergen. Die Videos springen zwischen panischen Atemzügen und Maschinengewehr-Salven. Auf dem Boden: Stofftiere, zerrissene T-Shirts, ein ausgebranntes Auto. Besucher:innen sind eingeladen, die Gegenstände zu berühren. Auf einem der Bildschirme ist der entkleidete und deformierte Körper von Shani Louk zu sehen, wie er auf einem Pick-up transportiert wird. Spätestens jetzt brechen neben mir zwei Personen sichtlich in Tränen aus; eine ist so überwältigt, dass sie sich kurz setzen muss.
Keins dieser Videos wird je eingeordnet oder erklärt. Irgendwo im Hintergrund erklingt die israelische Nationalhymne, Hatikva. Das ästhetische Versprechen ist klar: Authentizität durch Überwältigung. Erinnerung als Nacherleben. Gewalt wird nicht kontextualisiert, sondern affektiv reproduziert. Wer sich auf diese Inszenierung einlässt, wird für den Moment des Besuchs Teil einer traumatischen Erfahrung – und in gewisser Weise selbst Opfer der Hamas.
Stellvertretendes Trauma
Der Holocaust- und Genozid-Forscher Ben Ratskoff beschreibt dieses Muster in einem Essay im Journal of Genocide Research als «prothetisches Trauma»: Die Nova-Ausstellung konstruiert Erinnern als Reenactment – als eine Form der Einfühlung, bei der Besucher:innen stellvertretend die Wunde anderer spüren, sie emotional verstärken und in diffuse Angst übersetzen. Diese Affektarchitektur, so Ratskoff, verwandelt Identifikation mit den Opfern in Loyalität gegenüber ihren politischen Vertretern.
Ratskoff führt in seinem Essay noch einen zweiten Begriff ein: den des «Wundfetischs». Indem die Ausstellung die Gräueltaten aus ihrem historischen Kontext löst und die Besucher:innen einlädt, sich das Leid der Opfer anzueignen, entsteht eine Erzählung heroischer Tugend – ein Kampf zwischen Licht und Dunkel. «Die prothetische Traumatisierung» in der Ausstellung werde zu einer Strategie, «durch die Besucher:innen den Schmerz der Opfer als ihre eigene Erinnerung beanspruchen».
Doch was bedeutet solch eine Identifikation im deutschen Kontext? Es sind die Nachfahren der Täter des Nationalsozialismus – also wir –, die hier dazu angehalten werden, in die Rolle jüdisch-israelischer Opfer der Hamas zu schlüpfen. Und das ausgerechnet auf dem Gelände des Flughafens Tempelhof, wo während der NS-Zeit jüdische Häftlinge wie Leo Baeck oder Georg Benjamin zur Zwangsarbeit gezwungen wurden. Auf der anderen Straßenseite des Flughafengeländes erinnert heute noch ein Bronze-Mahnmal an das ehemalige KZ Columbia.
Historische Verantwortung wird in der Nova-Ausstellung nicht eingelöst, sondern verschoben. Im Zentrum stehen nicht die alten Nazis, sondern – israelischer Rhetorik folgend – die vermeintlich neuen der Hamas. Auch ästhetisch entbindet das moralische Wechselspiel von Gut und Böse Betrachter:innen von jeder unbequemen Selbstreflexion. In einer Zeit, in der die Trauer um die Opfer des 7. Oktober immer wieder zum Brennstoff von Kriegspropaganda gemacht wurde – oder, wie Naomi Klein schreibt, selbst zur Kriegswaffe wird –, wäre gerade diese Selbstbefragung dringender denn je.
An mehreren Stellen droht die Ausstellung darüber hinaus, die Ereignisse des 7. Oktober selbst zu verzerren. Deutlich wird das an einem Text neben einer Bunkerinstallation, der vom «heldenhaften Kampf gegen die Terroristen» spricht. Die Versäumnisse israelischer Behörden, die auch der UN-Menschenrechtsrat dokumentierte – darunter die Durchführung des Festivals trotz expliziter Warnungen am Vortag und das Fehlen ausreichender Sicherheitskräfte – bleiben hier unerwähnt. Während meines Besuchs scheint sich sowieso kaum jemand wirklich mit den Texten der Ausstellung auseinanderzusetzen. Komplexität wird durch Schaudern ersetzt – und durch Pathos nationaler Größe. Gaza kommt schlichtweg nicht vor.
Der dritte Raum öffnet sich nach all dem wie als sortierender Nachhall. Es ist der Raum der Erinnerung: geradlinig, klar, museal. In einer Ecke werden die Opfer als «schöne Engel» beschrieben, in einer anderen laufen Videos von Überlebenden. Davor: ein Saal mit sorgfältig arrangierten «geborgenen» Objekten, Tische mit persönlichen Gegenständen, Kerzen, Namenskarten.
In der Mitte dieses Raums stehen Tische mit Schuhen. Laut Ausstellungsmacher soll das die «Lost & Found«-Station sein. Ästhetisch ist es eine fast wörtliche Übernahme eines der wohl ikonischsten Symbole der Holocaust-Erinnerung: die Schuhe der Ermordeten, wie man sie aus Auschwitz oder Yad Vashem kennt. Der Schmerz der Nova-Opfer wird somit in die vertraute Bildsprache der Shoah überführt. Wer den Holocaust ernst nimmt, so die implizite Botschaft, muss den 7. Oktober als moralische Warnung begreifen. Und Kritik an Israels Reaktion in Gaza als Sakrileg? Letzteres wird nicht gesagt, schwingt aber mit.
Gaza
Bewusst oder nicht: Die Nova-Ausstellung bietet eine Bühne für die Politisierung jüdischer Unsicherheit. Eine Unsicherheit, die zweifellos real ist, hier jedoch symbolisch überhöht und wie in einem Disney-Erlebnispark erfahrbar gemacht wird. Die Ausstellung zeigt die Opfer des 7. Oktober als wehrlose Jüdinnen und Juden und Opfer eines antisemitischen Pogroms. Ausgeblendet bleiben die politischen und militärischen Zusammenhänge, die Vorgeschichte der Besatzung – und, natürlich: die Folgen. Die Inversion historischer Verantwortung, die bei dieser Inszenierung im deutschen Kontext anklingt, wird ebenfalls nicht reflektiert.
«We Will Dance Again», so beendet Klöckner ihre Rede – ein direktes Zitat des Ausstellungsmottos. Gaza – jenes Wort mit vier Buchstaben, das das Nova von seiner Nachbildung trennt – fällt am Eröffnungsabend kein einziges Mal. Es wirkt wie aus dem Skript gestrichen, ebenso wie die nach offiziellen Angaben rund 70.000 getöteten Palästinenser:innen. Der Genozid in Palästina «findet nicht statt, Punkt», erklärte Kai Wegner, Hauptförderer der Ausstellung, letztes Jahr auf einer öffentlichen Veranstaltung. Die Ausstellung ist somit in gewisser Weise ein akkurater Spiegel des deutschen Diskurses der letzten zwei Jahre – und zugleich eine sehr eigentümliche Vorstellung von Wirklichkeit.