für Elke1

Am 22. Januar 2024 ist die Dichterin Elke Erb mit 85 Jahren in Berlin gestorben.

Als ich Elke Erb zum ersten Mal aus ihren Fünf-Minuten-Notaten lesen hörte, die unter dem Titel Sonanz im Schweizer Urs Engeler Verlag als Band versammelt sind, war das in Lana, Südtirol, am 24. Juni 2006. Täglich fünf Minuten schreiben, aus dem Nichts, und wenn der Schreibfluss stockt, in der überbliebenen Zeit einfach immer wieder dasselbe Wort wiederholen. So hatte es Ulrike Draesner ihr angeraten, und Elke Erb nutzte diese Technik, um mit dem Band Sonanz einen der beeindruckendsten und heitersten Lyrikbände jener Tage zu schreiben.2 Ein subkutanes Lebewesen habe sie mithilfe dieser Routine hervorgelockt, schrieb sie im Vorwort, und dieses Lebewesen erwies sich als stabil, «sodass es als leibliches Instrument fortan anwesend blieb! Gleich darauf begriff ich, woher eine Reihe jener obsessiven Leitmotive kam, die mich verwundert hatten: Die Ecken, die Kante, der Rand, die Vertikalen, Waagrechten, die Flächen … Ein Lebewesen stimmt sich an und orientiert sich3 Die Bewegungen des Lebewesens bilden sich in den Gedichten mit ab, mobil, zugewandt und eigensinnig.

Nun las sie daraus, in Lana, und es war sehr warm. In dem tiefen Tal voller Apfelplantagen stand die Hitze wie ein Drescher und in der Bibliothek, wo die Lesung stattfinden sollte, war sie abendlich konserviert. Es floss uns der Schweiß in die Augen. Wann immer die Raumtemperatur die Körpertemperatur übersteigt, tut sich etwas an den Grenzen. Es zeigt sich, dass zwischen innen und außen eine Membran mit erhöhter Durchlässigkeit wirkt. Dann begann Elke Erb zu lesen, mit jener federnden Energie, die sie unmittelbar von der Stelle zu beziehen schien, an der Welt und Wahrnehmung aufeinander reagieren, ein ungeheuerlicher Vorgang, der alles Mögliche freizusetzen vermag.

Da war es, als würden innerhalb eines sehr großen Moleküls – groß genug, um alles zu beinhalten, was wir kennen – chemische Bindungen aufgebrochen und neue Bindungen hergestellt. Ich konnte es kaum fassen, wie nah diese Gedichte an den Dingen waren, und wie unendlich nah sie den schnellen Wendungen eines vorgrammatischen Denkens kamen. Gleichzeitig war klar: Wenn es jemals etwas zu fassen gab, dann das. Diese wendige Weisheit, die sich selbst organisiert. Nun hat Weisheit es an sich, dass sie ein Schwellenwesen ist. Ihre Wohnstatt ist der Durchgang, der Torbogen. Weisheit lehrt nicht – sie konsterniert. Sie konsterniert zum Besseren, und sie ist von einem doppelten Tempo. Langsam wie ein Baumstamm sich rundet, und schallgeschwind dazu. Vor eingen Jahren hatte Elke Erb gesagt, wer das Assoziative ablehne, verzichte auf den Reiz des Ungebundenen, um dann an den Gedanken aufzuschließen (oder den Gedanken selbst aufzuschließen), dass das Assoziative ja gerade das Verbindende und Verbundene sei – denn woher sonst wäre die Bindung zu nehmen?

An diesem heißen Sommerabend im Jahr 2006 aber schien es mir, als würde Elke Erb sich an der Weltformel selbst zu schaffen machen. Jene Klarheit wies mit einem Mal nachgerade apokalyptische Züge auf, als ginge es der Welt jetzt an den Kragen. Gleich stellte ich mir eine geheime Schaltzentrale vor, durch die nun ein plötzlicher Aufruhr gehen musste. Wie dort alles alarmiert aufspringt, wie unzählige Hebel, Schalter, Touch Screens und Tastaturen betätigt werden und von überallher Administratoren herbeieilen, um perplex auf die sprunghaften Phänomene von vierhundert Monitoren zu starren. Dann wieder richteten sich panische Blicke auf diesen kleinen Südtiroler Bergort Lana – ausgerechnet von dort! Wir hätten es wissen müssen! In der letzten Sekunde wird es dem aufgescheuchten Team gelungen sein, den Weltlauf zu stabilisieren.

Das ist zumindest anzunehmen, im Rückblick, denn es schien nach der Lesung gut und gefahrlos möglich, unter großen Bäumen in einem lauen Biergarten zu sitzen, wo indes das Spiel Argentinien gegen Schweden auf Großleinwand übertragen wurde. Woran sich sicher zeigte: Es war alles noch da. Aber war es dasselbe geblieben?

In der jüdischen Mystik gibt es die Vorstellung, das Ende der Welt könne auch mit der zarten Unwucht der geringsten Verschiebung anbrechen, indem man vielleicht ein Glas auf den Tisch stellt. Nicht geheimnisvoll raunend, sondern eine Verrichtung am helllichten Tag. Oder, wie es die exakte Wissenschaft definiert: «Eine Reaktion kann also durchaus zu einem Endzustand führen, der dem Ausgangszustand gleicht.» So ist es im Thesaurus der exakten Wissenschaften zu lesen. Geht es allerdings, wie hier, um eine im strikten Sinn metaphysische Reaktion, wird zudem das Medium der Erfahrung selbst geschult – und das teilt sich mit. Wie sich überhaupt alles mitteilt, was Elke Erb austeilte.

«Die eine Kachel war knallgrün. Das ließ sich nicht ändern», beginnt das Gedicht Zum Beispiel, das diesem Text, den Sie gerade lesen, den Titel gibt. Das Auge hat sich verhakt, vielleicht in einem Moment der Gedankenlosigkeit, es sieht die Kachel, deren Präsenz in der Wirklichkeit verfugt ist, so wie sie ist, mit einer Farbe, so intensiv, als würde sie sich plötzlich Gehör verschaffen.1 Dass sie an erträglich vorbei wirke, lese ich, und dass es ein Absehen brauche, um die eigentümliche Fixierung zu lösen, ein Unscharfstellen vielleicht, im Vorstellungsraum, angesichts dieser grellen Präsenz, die nun einmal da ist. Und was da ist, kann, wenn es einmal dort eingetroffen ist, nicht aus dem Bewusstsein entfernt werden. Als schaute die Kachel zurück, sobald sie in Verbindung mit mir tritt. Wie Elke Erb hier die Reziprozität und Durchlässigkeit der Wahrnehmung anhand eines gemeinhin unterschätzten Beispiels, einer knallgrünen Kachel nämlich, poetisch exemplifiziert ist von großem Witz und einer Klarheit, die in die Rêverie des Aufmerksamkeit hineinplatzt. So führt Elke die Kachel zum Knall und sorgt doch dafür, dass alles erhalten bleibt, ohne beim Alten zu bleiben.2

Unverständlich ist das nicht, ebenso wenig wie ihre Gedichte unverständlich sind, als was sie allerdings lange Jahre galten. Aber das hat sich womöglich inzwischen etwas geändert. Sicherlich kamen ihre Gedichte nicht schlichtend der Stumpfheit entgegen, nein, es muss umgekehrt gewesen sein. Eine andere, sich selbst erneuernde Lektüre ihrer Gedichte wird begonnen haben.

Und lesen kann man eine Auswahl ihrer Gedichte, die Freundinnen und Wegefährten anlässlich ihres Todes im Januar 2024 herausgesucht haben, auf der Internetseite ihres langjährigen Verlegers Urs Engeler.

Denn es stimmt, was gesagt wird: Das Einzige, was gegen die Trauer angesichts des Todes von Elke Erb hilft, ist: sie zu lesen, Zum Beispiel:

Die eine Kachel war knallgrün. Das ließ sich nicht ändern.
Sie war es, ist es, so ist es. Wenn sie noch ist.

Daran läßt sich nichts ändern. Eingesetzt sitzt sie fest.
Unzureichend gebilligt. Wirkt an erträglich vorbei.

Es bedarf einer Zutat, einer gewissen Dosis von Absehn,
Vorbeisehn an ihr, im Wissen, da sitzt sie.

Dessen bedurfte es wohl. Spürbarer Duldung sozusagen,
bei aber nicht verminderter Aufmerksamkeit.

Ein Knall ist ein Phänomen. Denke: Knall.