Sonderzug nach Moskau. Geschichte der deutschen Russlandpolitik seit 1990Bastian Matteo Scianna
C.H. BeckOkt. 2024 34 € 719 S.

Als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine überfiel, arbeitete ich gerade mit dem Ethnologen Michael Oppitz an einem Buch über sibirische Schamanentrommeln, ein Fortsetzungsband zu seinem 2013 erschienenen Text- und Bilderbuch Die Morphologie der Schamanentrommel über den Himalaya und seine schamanische Kultur. Ich half ihm beim Ordnen der Archivmaterialien, der Dokumente und Fotografien, Filme und Klangaufzeichnungen, und übersetzte Texte aus dem Russischen. Wir sprachen über die Zerstörung der Trommeln während der brutalen Verfolgung und Ermordung der Schaman:innen in der Sowjetzeit. Für uns war das aber Vergangenheit. Oppitz hatte Anfang der Neunziger Jahre auf der ersten internationalen Schamanismuskonferenz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebt, wie sich die indigenen Kulturen Sibiriens wiederbelebten. Seither konnten Vertreter:innen indigener Gruppen in Sibirien frei reisen, sich mit indigenen Aktivist:innen in den USA oder Südamerika vernetzen, gemeinsam für ihre Rechte kämpfen und Strategien gegen die Öl- und Gasfirmen und ihre umweltzerstörende Industrie austauschen. Dann kam der 24. Februar 2022.

Nach Russlands Invasion der Ukraine konnte ich nicht länger über sibirische Schamanentrommeln forschen. Der imperiale und genozidale Krieg gegen die Ukraine und die sich verschärfende rassistische Politik Putins gegen Minderheiten führten mir die lange Kolonialgeschichte Russlands vor Augen, die ich lange Zeit nicht hatte sehen wollen. So begann ich, mich mit indigenen Widerstandsbewegungen zu beschäftigen. Ihre hoffnungsvolle Periode Anfang der 1990er Jahre war nur von kurzer Dauer gewesen.

In meiner Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte Russlands war der kurz nach Kriegsbeginn veröffentlichte Essay des in Kyjiw lebenden Filmemachers Oleksiy Radynski «Wider die russische Föderation» ein Erweckungserlebnis. Oleksiy betont darin die Wichtigkeit der Allianz der ukrainischen – und russischen – Antikriegsbewegung mit dem antikolonialen Kampf indigener Gruppen in Sibirien. Er lässt in seinem Artikel nicht außer Acht, dass die Kolonisierung Sibiriens von Kyjiw ausging, der Hauptstadt jenes mittelalterlichen slawischen Großreichs, das vom heutigen Russland als Vorläuferstaat betrachtet wird. «Die Ostexpansion der Slawen vom heutigen Kyjiw aus war ein früher Fall von Siedlerkolonialismus mit allem, was dazugehört: Völkermord an der indigenen Bevölkerung, Ausbeutung von natürlichen Ressourcen, Etablierung autokratischer Herrschaft. Was wir heute als Russische Föderation kennen, ist das Ergebnis dieses tragischen Prozesses, der als Parallele zur kolonialen Expansion der westlichen Staaten Europas betrachtet werden kann», schreibt Oleksiy.

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Der Essay markiert für mich den Beginn einer neuen Beschäftigung mit Russland und dem spezifischen «internal colonialism», wie der in Wien lehrende Historiker Alexander Etkind es in Abgrenzung vom überseeischen europäischen nennt. Ich erfuhr von den unzähligen Kolonialkriegen gegen indigene Gruppen auf den bis heute zur Russischen Föderation zählenden Gebieten und dem traurigen Scheitern der Dekolonisierungsbewegungen nach dem Zerfall der Sowjetunion, als die von zahlreichen Republiken und Regionen verfassten Unabhängigkeitserklärungen von der Russischen Föderation für nichtig erklärt wurden. Russische Staatsunternehmen wie Gazprom treten bis heute die Rechte Indigener mit Füßen, wenn sie mit Pipelinenetzwerken, Straßen und Siedlungen die Weidezüge der Rentiere der nomadisch lebenden Nenzen auf der Halbinsel Jamal blockieren und das sensible Ökosystem zerstören. Die 1990 gegründete Assoziation der indigenen kleinen Völker des Nordens, Sibiriens und des Fernen Ostens «RAIPON», die die über 40 indigenen Gruppen in Sibirien repräsentieren und ihre Rechte schützen soll, ist längst keine Hilfe mehr, da sie von kremltreuen Funktionären unterwandert ist. Die mehr oder weniger zwangsweise vollzogene überproportionale Mobilisierung von Männern ethnischer Minderheiten zeigt deutlich die rassistische Gewalt des Regimes und lässt keine Zweifel, dass das Kapitel der kolonialen Gewalt in Russland andauert.