Gallimard Aug. 2024 23 € 416 S.
Kamel Daouds neuer Roman Houris, der im August bei Gallimard erschienen ist, geht von einer für die Obsessionen des Autors typischen Unterscheidung aus: Die Erzählerin spricht vom «wahren Algerienkrieg» – dem Bürgerkrieg der 1990er Jahre – und stellt ihm den «anderen Krieg, den gegen Frankreich» gegenüber, der sich von 1954 bis 1962 gegen die Kolonialherrschaft richtete. Die Heldin äußert ihren Unmut ob der symbolischen Bedeutung des letzteren: «Hier ist kein Entkommen vor der Erinnerung an den algerischen Befreiungskrieg.» Überall finden sich Gedenkstätten. «Und wenn wir, die Überlebenden des Bürgerkriegs der 1990er Jahre, ein eigenes Denkmal fordern?»
Leidet Algerien an einem selektiven Gedächtnis und verdeckt eine umstrittene Vergangenheit mit einer, über deren Bewertung Konsens herrscht? Vergleichbare erinnerungspolitische Debatten erschüttern viele Länder, die ihr Verhältnis zur Geschichte neu definieren wollen, während die Erzählungen der «Nachkriegszeit» immer mehr verblassen. Im Fall Algeriens und des Romans von Kamel Daoud ist diese Frage noch komplizierter, weil der 1970 in Mostaganem bei Oran geborene Autor eine herausragende Rolle in der Medien- und Literaturlandschaft der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich spielt, deren Staatsbürger er geworden ist und auf deren Territorium er lebt. Houris war eines der meistdiskutierten Bücher im literarischen Herbst 2024 und wurde von der französischen Kritik mit Lob überschüttet – zur Krönung wurde der 416-Seiten-Roman mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, ein Garant für Buchverkäufe. Heißt das, ein kritischer Blick auf eine «nicht vergehende Vergangenheit» ist nun möglich? Das ist mehr als ungewiss, denn die Geschichte, die Daoud erzählt, ist voller kontroverser Lücken und Überraschungen.
So warf Sâada Arbane dem Autor ein paar Wochen nach dem Verbot des Romans auf der Internationalen Buchmesse in Algier öffentlich vor, «die Geschichte eines Terrorismusopfers», nämlich ihre eigene, «gegen ihren Willen ausgebeutet» zu haben. Der Verleger François Gallimard entgegnete in einer Pressemitteilung: «Houris orientiert sich an den tragischen Ereignissen in Algerien während des Bürgerkriegs in den 1990er Jahren, die Handlung, die Figuren und die Heldin sind jedoch rein fiktiv.»
Die Anfänge, die Massaker
Houris ist von einer Gewalt geprägt, die der Autor in mehreren Phasen seines Lebens aus nächster Nähe erfahren hat. Im Oktober 1988 beteiligt sich der 18-jährige Daoud am Aufstand der algerischen Jugend, der von Armee, Gendarmerie und Polizei niedergeschlagen wird. Diese brutale Aktion fordert über 500 Todesopfer, ganz zu schweigen von den Tausenden von Verhafteten und Gefolterten. Als Reaktion auf dieses Massaker ruft Präsident Chadli Bendjedid eine neue Verfassung aus, mit der das Kapitel des «besonderen Sozialismus» endet, das 1962 mit der Charta von Tripolis eröffnet worden war und das unabhängige Algerien im Kalten Krieg zu einer führenden Kraft der Bewegung der Blockfreien Staaten gemacht hatte. Ein Wind der Freiheit weht nun durchs Land; die neue Verfassung ermöglicht eine demokratische Wende und die Gründung von Vereinen, Zeitungen und Parteien. Die Hauptströmung, die den Frust der benachteiligten Schichten kanalisieren kann, wird durch die Islamische Heilsfront (Front islamique du salut, al-Jabhah al-Islāmiyah lil-Inqādh) repräsentiert. Trotz des theokratischen Projekts und der Ablehnung der Demokratie gewinnt sie die ersten freien Wahlen. Der Hohe Sicherheitsrat annulliert diese jedoch im Januar 1992 und verhängt im Monat darauf den Ausnahmezustand. Das harte Vorgehen gegen islamistische Aktivisten und Sympathisanten radikalisiert eine Basis, die auf Aufrufe zum Dschihad gegen den «gottlosen Staat» anspringt: ein entscheidender Schritt zum Bürgerkrieg. Die anderen politischen Gruppierungen (Demokraten, Islamisten, Konservative, Nationalisten und Sozialisten) lassen sich in zwei Lager einteilen: Das eine setzt sich im Zeichen der Demokratie für die Einhaltung der Wahlen ein und befürwortet den Dialog mit den Islamisten (die «Versöhner»), das andere unterstützt zum Schutz der Republik eine Unterbrechung des Wahlprozesses und die Unterdrückung der Islamisten (die «Eradikatoren»).
Daoud wird mit Kriegsbeginn Journalist; 1994 fängt er bei der Zeitung Quotidien d’Oran an und bereist im Januar 1998 den Ort des Massakers von Had Chekala, was ihn traumatisiert und Jahre später zum Thema von Houris wird. Sein lockerer und provokanter Stil macht Daoud landesweit bekannt: Die Kolumne «Raïna Raïkoum» (etwa: Unsere Meinung, eure Meinung) eckt beim islamisch-konservativen Rand durch ihren hedonistischen Individualismus und bei der linken Intelligenz durch ihren Liberalismus an. In seiner zweiten Erzählung Ô Pharaon (Dar el Gharb, 2005) rekapituliert Daoud das «schwarze Jahrzehnt» und erntet die Sympathie der «Versöhner» und den Zorn der «Eradikatoren».
In Frankreich wird man auf den Journalisten und Schriftsteller aufmerksam, als seine Kurzgeschichtensammlung Le Minotaure 504 erscheint (Sabine Wespieser, 2011, in deutscher Übersetzung von Sonja Finck: Minotaurus 504, Persona, 2012). Es handelt sich um eine Neuveröffentlichung seines erstmals in Algier unter dem Titel La préface du nègre (barzakh, 2008) veröffentlichten Buchs. Der eigentliche Durchbruch gelingt ihm jedoch mit Meursault, contre-enquête, das 2013 anlässlich des hundertsten Geburtstags von Albert Camus erscheint (Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung, übersetzt von Claus Josten, Kiepenheuer & Witsch, 2016). Für den Roman, der eine Gegenposition zu Der Fremde einnimmt, erhält der Autor den Prix Goncourt für Romandebüts. Nach diesem Erfolg beginnt Daoud 2014 seine Zusammenarbeit mit der rechten Wochenzeitung Le Point des Milliardärs François Pinault. Ein nach den sexuellen Übergriffen in der Kölner Silvesternacht veröffentlichter Beitrag wird dafür kritisiert, dass er «die islamophoben Fantasien eines zunehmenden Teils der europäischen Öffentlichkeit» anheize. Damit wird Daoud in den französischen und internationalen Medien zu einer Galionsfigur für alles, was mit Algerien, Islamismus und Einwanderung zu tun hat. Im Januar 2019 wird er an der französischen Eliteschule Sciences Po in Paris als erster Schriftsteller auf die neu geschaffene Position des «Writer in Residence» gehoben.
Ein Roman der inneren Stimme
Mit Houris widmet sich Kamel Daoud abermals dem Bürgerkrieg, dessen immer noch umstrittene Bilanz mit mehr als 100.000 Toten, einer Million Vertriebenen und Zehntausenden Exilanten (die vor allem nach Frankreich geflohen sind) zu Buche schlägt. Der Roman ist im Ganzen sicher Fiktion, der Autor hat jedoch in mehreren Interviews betont, dass er sich auf wahre Begebenheiten gestützt hat. Daouds Rolle in den Medien, wo er eher als Experte und nicht als Schriftsteller auftritt, macht es noch schwieriger, die Entstehung und die Rezeption des Buchs von der asymmetrischen Beziehung zu trennen, die Frankreich zu seiner ehemaligen Kolonie unterhält.