Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am ZionismusJudith Butler übers. v. Reiner Ansén
CampusJan. 2013 32 € 277 S.
«The Compass of Mourning»Judith Butler
The London Review of BooksOkt. 2023

Judith Butler ist in den Augen vieler – um Butlers eigene Beschreibung Hannah Arendts zu paraphrasieren – zur «passioniertesten säkularen jüdischen Kritikerin des Zionismus» im 21. Jahrhundert geworden. Die Kontroverse um Butlers Buch Am Scheideweg (eng. Parting Ways) von 2012 und um deren Wortmeldungen nach dem 7. Oktober 2023 ähnelt jener um Arendts Eichmann in Jerusalem. Wie Arendt gilt Butler vielen als moralische Instanz, während sie anderen, insbesondere in Israel und Deutschland, zum Inbegriff des moralischen Versagens linker Intellektueller oder «selbsthassender Juden» geworden ist.

Viele Kritiken konzentrieren sich auf Butlers gelegentliche öffentliche Äußerungen, darunter ein Podiumsgespräch in Paris im März 2024, in dem Butler den Hamas-Angriff des 7. Oktober als «bewaffneten Widerstand» bezeichnete, was trotz gegenteiliger Beteuerungen Butlers als ein Gutheißen des Massakers kritisiert wurde. In der Kontroverse werden die nuancierten Analysen unterschlagen, die Butlers philosophische Texte liefern. Was Am Scheideweg angeht, so hat Butler selbst eingeräumt, «dass in diesem Text sehr viel, vielleicht zu viel gleichzeitig passiert».1 Um die jüngsten Attacken gegen Butler zu bewerten, müssen wir uns die Mühe machen und Am Scheideweg noch einmal lesen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Buch zeigt, wie kurzsichtig die Kritiken daran sind. Nicht nur antizipiert Butler die von ihren Kritikern aufgeworfenen Probleme, sie bearbeitet sie auch auf eine komplexe Weise, die ins Zentrum der gegenwärtigen Debatten zur anhaltenden Gewalt in Israel-Palästina zielt.

Die jüdische Kritik am Zionismus

Am Scheideweg bestreitet die weit verbreitete Auffassung, dass die Kritik an der ideologischen Selbstdefinition Israels als ausschließlich jüdischem Staat – kurz: die Kritik am Zionismus – inhärent antisemitisch sei. Vorwürfe des «israelbezogenen Antisemitismus» haben in den vergangenen Jahren dazu gedient, Kritik und Proteste gegen israelisches Staatshandeln zum Schweigen zu bringen oder gar zu kriminalisieren. Die Anti-BDS-Resolution des deutschen Bundestags von 2019 und ihr Nachfolger vom November 2024 («Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken») haben die IHRA-Antisemitismusdefinition im deutschen öffentlichen Leben verankert, und ihre maximalistische Auslegung half Behörden und Polizei seit dem 7. Oktober dabei, Demonstrationen und andere Solidaritätsbekundungen mit Gaza auf den Straßen, an den Universitäten und in Kunstkontexten zu unterdrücken. Gestützt auf eine ähnliche Theorie diskreditierte Netanjahu zuletzt die Haftbefehle des Internationalen Gerichtshofs gegen ihn und seinen ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant als Entscheidungen «antisemitischer Richter».

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Butler bestreitet nicht nur, dass Kritik am Zionismus inhärent antisemitisch sei (obwohl die Grenze in manchen Fällen porös sein kann), sondern begründet auch, warum jüdische Quellen und Werte zu einer solchen Kritik auffordern. Mitunter kann es sogar als wesentlich für jüdisches Leben angesehen werden, sich dem Zionismus entgegenzustellen. Indem Butlers Theorie diese Seite der jüdischen Tradition affirmiert, führt sie eine scharfe Unterscheidung zwischen Jüdischsein und Zionismus ein, eine «Wegscheide» im Kampf um das, «was im Namen des jüdischen Volkes getan wird». Butler kritisiert die der israelischen Staatsgründung zugrundeliegende Vision eines exklusiv jüdischen Selbstbestimmungsrechts und exklusiver jüdischer Souveränität, welche 2018 im Grundgesetz: Israel – Der Nationalstaat des jüdischen Volkes formalisiert wurde. Auf ihrer Grundlage haben israelische Regierungen bereits seit 1948 jüdisches Leben gefördert und palästinensisches Leben unterdrückt. Staatliche Gewalt wurde ausgeübt, um jüdische Einwanderer anzusiedeln, während palästinensische Einheimische unterdrückt, enteignet und vertrieben wurden: Ein Vorgang, den Butler als Siedlerkolonialismus anklagt.

Die Alternative, die Butler vorschlägt, beruht nicht auf staatlicher jüdischer Souveränität, sondern auf dem jüdischen Ethos des galut, das heißt auf Exil und Diaspora. Gegen die exklusive Nationalstaatsvision, die nichtjüdische Palästinenser ausgrenzt, entwirft Butler eine aus der diasporischen jüdischen Tradition begründete Vision für jüdisch-nichtjüdisches Zusammenleben. Sie soll eine «Rückwendung des Diaspora-Gedankens auf Palästina» ermöglichen und einen politischen Wandel weg von mononational-jüdischer Souveränität, hin zu binational-jüdisch-palästinensischer Kohabitation.