Gaza im Auge der GeschichteEnzo Traverso übers. v. André Hansen
Wirklichkeit BooksNov. 2024 18,00 € 132 S.

Enzo Traverso ruft auf den ersten Seiten seiner einordnenden Auseinandersetzung mit Gaza ein 1999 publiziertes Buch des Schriftstellers W.G. Sebald in Erinnerung, in dem dieser sich unter dem Titel Luftkrieg und Literatur mit der Zerstörung deutscher Städte und insbesondere mit dem Feuersturm in Hamburg durch die Alliierten zum Ende des Zweiten Weltkriegs befasste. Es ist eine überraschende Referenz und Traverso nimmt sie für ein Manöver zur Hilfe, mit dem er der Kontroverse um die Möglichkeit und Angemessenheit historischer Analogien eine neue Wendung gibt. Seit dem 7. Oktober 2023 erfuhr die Diskussion darum, in welchem Zusammenhang die Shoah als Vergleich herangezogen werden darf, um Ausmaße von Gewalt zu verdeutlichen, mehrere öffentliche Höhepunkte. So wies Masha Gessen auf die grundlegende Funktion historischer Vergleiche hin und argumentierte, dass die Singularität eines Ereignisses nicht dadurch in Frage gestellt werde, dass man es zu einem anderen ins Verhältnis setzt. Ausgehend von der Beobachtung Gessens bearbeitet Traverso die tieferliegenden Gründe für die nur partielle Thematisierung und schleichende Derealisierung von Geschichte.

Der Feuersturm 1943 in Hamburg – ein bis dato ungekanntes Phänomen, wie Sebald schreibt – war die Konsequenz der Operation Gomorrha, die auf die Zerstörung der «Moral» der deutschen Bevölkerung abzielte und nicht länger auf die militärische oder zivile Infrastruktur. Sebald fragt sich, warum die zweifellos entsetzliche Erfahrung der Bombenangriffe in der Nachkriegszeit wenig gesellschaftlichen Raum einnahm. Er berührt damit den empfindlichen Gegenstand deutschen Leidens im Zweiten Weltkrieg, die Leidensgeschichte des faschistischen Aggressors. Die Gefahr einer Täter-Opfer-Umkehr mit Blick auf die Angriffe der Alliierten ist real insofern sie bis heute von reaktionären bis rechtsradikalen Stimmen zum Zwecke einer Geschichtsrevision herangezogen wird. Sebalds Überlegungen vollziehen sich in einem merkwürdig kontextlosen Raum, in dem nicht immer ganz klar ist, worauf er eigentlich hinauswill – der Vorwurf, er habe sich in die Nähe von Relativierungsversuchen deutscher Schuld begeben, scheint teilweise nahezuliegen, obgleich Sebald die Konsequenzen der völlig offensichtlichen deutschen Schuld für das Erleben des Bombenkriegs untersucht. In seinem Essay fällt gar die Behauptung, es habe weder literarische noch sonstwie ernstzunehmende Auseinandersetzungen mit den Konsequenzen der Bombardements für die deutsche Zivilbevölkerung gegeben, was schlicht nicht stimmt.1 Was hat dieser bemerkenswerte Text aus Sicht Enzo Traversos zur Gegenwart beizutragen, sodass er sich als Eröffnung einer Reflexion über Gaza eignet?

Es erscheint zunächst recht einfach: Traverso sieht sowohl in der Thematisierung deutscher Opferschaft innerhalb des Historikerstreits als auch in der Positionierung Israels bloß als Opfer jeweils ein Problem der Täter-Opfer-Umkehr: «In beiden Fällen wurden die Rollen vertauscht: Damals waren die Opfer die Deutschen und nicht die Jüdinnen und Juden; heute sind die Opfer die Israelis und nicht die Palästinenser*innen.» Ein so lautender historischer Vergleich wurde oft skandalisiert und es ist interessant zu ermitteln, welchen Aspekt genau Traverso hier ansteuert, um etwas zu beleuchten, ohne es explizit zu benennen. Es geht nicht allein um eine Täter-Opfer-Umkehr in Momenten einer staatlichen Gewalt, die sich ohnehin fast alle staatlichen Akteure irgendwann einmal zunutze machen. Traverso hat über die Äußerungen der israelischen Regierung hinaus diejenigen Staaten im Blick, die aus bestimmten Gründen dieser Inszenierung beigepflichtet und dabei die Realität der vernichtenden Kriegsführung in Gaza ausgeblendet haben. Im Speziellen scheint diejenige deutsche Gesellschaft gemeint zu sein, die sich in ihren Medien, ihren staatlichen Repräsentant*innen und Institutionen nicht willens oder nicht fähig zeigte, der genozidalen, flächendeckenden Zerstörung von Leben im Norden Gazas diejenige Aufmerksamkeit entgegenzubringen, die den israelischen Opfern vom 7. Oktober zuteil wurde.

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Mithilfe von Sebalds Text findet Traverso den Grund für diese Dynamik nicht allein in der (von ihm ebenfalls besprochenen) israelbezogenen «Staatsräson», sondern in einer tieferen Dynamik, die durch das Betrachten des Leids anderer ausgelöst wird: Ein Leid kann nicht beklagt werden, wenn dadurch ein anderes, selbst verursachtes ebenfalls deutlich in Erscheinung treten würde. Unschuld zerfällt in der Bereitschaft, sich tatsächlich einem Unrecht zuzuwenden und zu erkennen, dass es weder das einzige noch das gravierendste ist – und dass die eigene Eingebundenheit in Macht und Staat vielleicht sogar zu seiner Ermöglichung beigetragen hat. Mit anderen Worten, Deutsche können Bilder aus Gaza nicht ertragen, weil es sie angesichts der Unterstützung von israelischer Besatzungspolitik und Kriegsführung auf ihre Mitschuld stoßen ließe. Welche Erinnerung wird angesichts zerrissener Körper in Gaza als zusätzliche Qual mobilisiert? Das Wissen, dass deutsches Steuergeld beteiligt ist? Die Furcht vor der Entwertung all der Mühen, welche die deutsche Aufarbeitung der Vergangenheit gekostet hat?