Verzauberte VorbestimmungJonas Lüscher
HanserJan. 2025 26 € 352 S.

Im Berliner Brecht-Haus fand jüngst unter dem etwas sperrigen Titel Partikulare Poetiken eine Tagung zum Thema «Autofiktionale Literatur» statt, auf der unter anderem die Hanser-Lektorin Emily Modick über die Akquisepraxis ihres Verlags referierte. Autofiktionale Werke, gab sie erfrischend ungefiltert preis, würden heutzutage zum Großteil aufgrund der Reichweite ihrer Autor:innen eingekauft. Auch würde gezielt in den sozialen Medien nach Persönlichkeiten mit interessanten Lebensgeschichten Ausschau gehalten – ob sie schon jemals eine Zeile Literatur verfasst hätten, sei dabei zweitrangig.

Es folgte ein ungewöhnlich angeregtes Publikumsgespräch, bei dem jedoch eine Frage, obwohl sie greifbar im Raum schwebte, ungestellt blieb: die nach dem Verhältnis von Mensch und Technik in der Produktion autofiktionaler Texte. Denn wie geht wohl jemand an einen Text heran, der keine Erfahrungen im und vielleicht auch keine allzu große Lust am Schreiben hat, aber eine sechsstellige Summe dafür angeboten bekommt, seine Lebensgeschichte zu verarbeiten? Früher sprangen an dieser Stelle Ghost Writer ein. Heute gibt es ChatGPT.

Is It O.K. To Be A Luddite 2.0?

Die Vermutung liegt nahe, dass wir uns mit solchen Marktlogiken in eine Zeit hineinbewegen, in der Maschinen und Menschen in einträglicher Weise zusammenarbeiten werden, um etwas zu produzieren, dem sich hernach das Etikett «authentisch» anheften lässt. Eine Überlegung, die nicht nur dem Authentizitätsbegriff einen interessanten Twist verleiht, sondern auch heute schon anders auf Autofiktion blicken lässt. Insbesondere, wenn es sich dabei um einen zwar nicht explizit als «Autofiktion» gelabelten, jedoch unzweifelhaft autobiografisch geprägten Roman aus dem Hause Hanser handelt: Verzauberte Vorbestimmung, das lang erwartete dritte Buch des Schweizer Autors Jonas Lüscher, das sich zudem zentral mit dem Verhältnis von Mensch und Technik beschäftigt. Schon der Titel, dem sowohl etwas Märchenhaft-Verspieltes als auch etwas latent Bedrohliches anhaftet, verweist auf einen Begriff aus dem Machine Learning: enchanted determinism bezeichnet dort die erstaunlichen Fähigkeiten von KI, Muster zu erkennen und Vorhersagen zu treffen, während die Rechen- und Lösungswege größtenteils unerklärlich bleiben und deshalb quasi magisch anmuten.

Diese Black Box hat es Lüscher ganz offensichtlich angetan – wenn sie schon nicht zu knacken ist, scheint er sich gesagt zu haben, kann man sie zumindest kräftig durchrütteln. So lässt sich sein jüngster Roman nicht zuletzt als defätistische Satire auf den Tech-Solutionismus kalifornischer Machart lesen. Während sein Vorgängerroman Kraft trotz diverser Rückblenden und Verschachtelungen relativ stringent erzählt daherkam, ist Verzauberte Vorbestimmung ein weitaus schwerer zu fassendes Gebilde. Schon das Cover – eine sehr kleine, seltsam gekleidete Figur vor gelbem Hintergrund – ist alles andere als instagrammable. Und wovon handelt dieses Buch eigentlich?


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Dass man den Plot unmöglich in der Art eines Elevator Pitch nacherzählen könne, gibt der Autor freimütig im kurzen Verlagsinterview zu. Und klingt nicht einmal reuig darüber, sich derart den gängigen Anforderungen der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen. Dabei geht es durchaus süffig los, mit einem algerischen Soldaten, der während des Ersten Weltkriegs in Flandern knapp einem deutschen Giftgasangriff entkommt und daraufhin desertiert. Schonungslos plastisch beschreibt Lüscher die Kriegsgräuel und wie ein einfacher Mann beschließt: Er will «nicht Teil dieser Maschinerie sein». Eine Szene, die starke Affekte weckt, da sie zum einen Schreckensbilder der schlimmsten Auswirkungen von Technologie heraufbeschwört, zum anderen eine naiv-romantische Selbstermächtigungsgeschichte transportiert.

Einen Moment lang wird tatsächlich vorstellbar, dass jemand auf BookTok den Titel, versehen mit dem Hashtag «This book made me cry», in die Kamera halten könnte. Aber wirklich nur einen sehr flüchtigen Moment lang. Denn schon wenige Seiten später löst sich der Name des algerischen Soldaten ebenso wie der Name desjenigen, der seine Geschichte erzählt, in Rauch auf, und der Zigarettenrauch, den beide ausstoßen, ebenso. «Dieses Gerauche» erscheint Lüscher nämlich genau wie die ganze Soldaten-Episode reichlich kitschig, «als würde eine Geschichte glaubhafter, wenn man sie mit dem Geruch von Tabak imprägniert und mit bedeutungsschweren Rauchwolken dekoriert», und der letzte Absatz des prologartigen ersten Kapitels gibt den Ton des restlichen Buches vor: «Das alles ist nicht geschehen (…). Aber möglich wäre es vielleicht.»