Das verrückte Herz. Sarajevo Marlboro remasteredMiljenko Jergović übers. v. Brigitte Döbert
SuhrkampNov. 2024 25 € 304 S.
Sarajevo MarlboroMiljenko Jergović übers. v. Brigitte Döbert
SchöfflingMärz 2009 9,99 € 200 S.

In einer Schlüsselszene aus dem ersten Sarajevo-Marlboro-Band raucht der Erzähler mit einem leicht unwissenden, reichlich naiven amerikanischen Journalisten eine Zigarette und liest ihm dabei die Leviten. Unter anderem geht es um den Unterschied von Friedhöfen in Sarajevo und Amerika; auf den amerikanischen lägen die Toten in Reih und Glied unter identischen Steinplatten, als kämen auch ihre «Seelen aus einer Stanzmaschine». Das nähert die Toten dem Produktionsprozess von Zigaretten an (das Cover einer Wiederauflage zeigt Zigaretten als hölzerne Grabkreuze und dazu muslimische Holztafeln), besonders im ersten Band unterstellt der Erzähler der westlichen Kriegsberichterstattung die Verbreitung von Klischees, die Vermarktung des Sterbens. Zugleich denkt man an den aus weltweiter Werbung bekannten «Marlboro Man», an die Expansion der kapitalistischen Konsumwelt und Abenteuerbilder aus dem Wilden Westen.

Wird hier das Bild des «Balkans als Pulverfass», seit Otto von Bismarck zum geflügelten Wort geworden und bis heute in der Berichterstattung präsent, kritisch auf den Plan gerufen? Für die Coolness und den Freiheitsgeist eines Cowboys wirkt die Belagerung wie ein Spiel; die Tragik ergibt sich aus dem ironischen, weil schiefen Vergleich. Während die Welt Marlboro-Zigaretten konsumiert, erleidet Sarajevo unvorstellbare Zerstörung. Wobei die Sarajevo-Marlboros anders sind: Sie sind weiß, da die im Krieg zerstörten Druckereien keinen Rotdruck mehr liefern können. Die weißen Marlboros sind «unschuldig», aber auch Symptom eines vom Rest der Welt abgeschnittenen Lebens.

Das kommunistische Jugoslawien war – im Unterschied zu den Staaten des Warschauer Pakts – seit den 1970er Jahren in den westlichen, globalisierten Markt integriert. Es repräsentierte vormals einen «dritten» Weg, einen multinationalen Staat, der eigenständig und offiziell unabhängig von den beiden Blöcken im Osten und Westen existierte. Die Spannungen zwischen den drei stärksten Bevölkerungsgruppen (Kroat:innen, Serb:innen und Bosniak:innen, die bis zum Kriegsausbruch in Jugoslawien als «Muslime» bezeichnet wurden) verschärften sich in der damaligen jugoslawischen Teilrepublik Bosnien und Herzegowina, nachdem das dortige Parlament 1992 die Unabhängigkeit von Jugoslawien erklärte. Statt diese anzuerkennen, wie etwa die Europäische Union, begannen die «Jugoslawische Nationalarmee» und serbische Regimente die Stadt zu belagern. Nachdem es im April zu Geiselnahmen, Schusswechseln und weiteren Eskalationen gekommen war, verhängten bosnisch-serbische Einheiten am 2. Mai 1992 über die bosniakisch-kroatischen Stadtteile Sarajevos eine offizielle Blockade. Die Hauptausfallstraßen in die Stadt wurden gesperrt, der Beginn der Belagerung. Bis 1996 dauerte diese an, unglaubliche 1425 Tage, und mindestens 11.000 Menschen fielen ihr zum Opfer.

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Von Snipern umstellt

Mit der Veröffentlichung von Sarajevo Marlboro im Jahr 1994 wurde Jergović, der 1993 aus dem belagerten Sarajevo nach Kroatien geflohen war, schlagartig bekannt. Die Erzählsammlung ist eines der bedeutendsten literarischen Zeugnisse über den Krieg in Bosnien und Herzegowina (1992–1995). Sie versammelte 29 pointierte Kurzgeschichten, die teilweise minimalistisch, teilweise von großen Perspektivwechseln geprägt sind und sich durch Fragmentierung und Ironie auszeichnen. Dreißig Jahre später erscheint nun ein zweiter Band, eine Art Wiedergänger, der unmissverständlich bekundet, dass das «Sarajevo vom 2. Mai», dem Tag, an dem die Belagerung 1992 begann, alles andere als vergangen ist. Wozu die Wiederholung, möchte man fragen?