Deutschland wird von den Staaten des globalen Südens für seine jüngere Israelpolitik kritisiert wie kaum ein anderes Land. Das ist neu, galt die Bundesrepublik doch in Nahost und anderen Konfliktregionen bisher als vermittelnde Kraft, auch wegen des entschiedenen Neins von Bundeskanzler Gerhard Schröder zur Beteiligung am Irakkrieg 2003. Von diesem hohen Ansehen motiviert, kandidierten verschiedene deutsche Bundesregierungen wiederholt für einen der wechselnden Sitze im UN-Sicherheitsrat und forderten im Verein mit anderen Staaten einen ständigen Sitz. Dieses Bild wurde jedoch bereits durch die restriktive Impfstoffpolitik während der Corona-Pandemie und die deutschen Reaktionen auf den russischen Angriffskrieg beeinträchtigt.

Die deutsche Eingabe gegen die Genozid-Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof, die nahezu bedingungslose Unterstützung der Netanjahu-Regierung im Gazakrieg und die Zensur israelkritischer Stimmen zuhause hat dieses Ansehen Deutschlands zunächst einmal zerstört – nur die USA und Großbritannien genießen einen ähnlich schlechten Ruf. Neben politischen und juristischen Beistandsgesten geht es auch um die konkrete militärische Befähigung Israels. Nach Auskunft des Bundeswirtschaftsministeriums gegenüber dem Bundestag vom 9. Januar 2024 genehmigte die Bundesregierung im Jahr 2023 Rüstungsexporte nach Israel im Wert von 326.505.156 Euro, eine um das Zehnfach höhere Summe als im Jahr 2022. Ein Großteil der Einzelgenehmigungen, nämlich 185 von insgesamt 218, erteilte die Regierung unmittelbar nach dem 7. Oktober. Danach ging die Zahl der Genehmigungen zurück, im Sommer 2024 kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz öffentlich neue Lieferungen an. Im Einzelnen sind Inhalte und Ausführung der Genehmigungen nicht transparent, was deren Anfechtung durch zivilgesellschaftliche Akteure schwierig macht – ein Problem, das sich beim Waffenexport insgesamt und nicht nur im Falle Israels stellt.1

Nun kann man einwenden, dass die Bundesrepublik mit Russland, China und Iran seit Jahrzehnten rege Geschäfte treibt, oft begründet mit der außenpolitischen Maxime «Wandel durch Annäherung» und über menschen- oder völkerrechtliche Bedenken hinweg. Es stellt sich also die Frage, inwiefern die Bundesregierung sich in der aktuellen Situation anders verhält als in vergleichbaren Konstellationen gegenüber anderen Staaten. Ist der Vorwurf von Doppelstandards tatsächlich erst gegenüber Israel einschlägig geworden? Oder haben wir es nicht vielmehr mit business as usual zu tun, rhetorisch aufgeplustert durch den Diskurs der Staatsräson?

Deutschlands Völkerrechtspolitik war schon immer von denselben Abwägungen durchzogen wie diejenige anderer westlicher Staaten; wenn man einen besseren Ruf als die NATO-Partner genoss, dann nicht unbedingt aus eigenem Verdienst. Das Kaiserreich hatte nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg seine Kolonien aufgeben müssen. Dies hatte immerhin den Vorteil, dass das besiegte Deutschland nach 1945 in der Phase der sogenannten «Umkämpften Dekolonisation», im Gegensatz zu den Siegermächten Frankreich und Großbritannien und den übrigen europäischen Kolonialmächten Niederlande, Belgien und Portugal, nicht Gefahr lief, das Versprechen zu brechen, das man gerade erst gegeben hatte: Die Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte datiert vom 10. Dezember 1948. Dass die Europäer gleich im Anschluss die Unabhängigkeit der Kolonisierten durch massive Kriegsverbrechen etwa in Indonesien, Kenia, Kongo, Algerien und anderen Staaten Afrikas unterdrückten, prägt das moralische Bewusstsein der globalisierten Welt bis heute.

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Die beiden deutschen Staaten spielten in der Nachkriegszeit militärisch und politisch keine große internationale Rolle und hatten an notorischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den 1960er Jahren – etwa an der Ermordung einer halben Million Kommunisten in Indonesien oder am Vietnamkrieg – keinen Anteil. Etwas anders stellte sich die Lage ein Jahrzehnt später in Lateinamerika dar. Während des Kalten Krieges waren selbst blutige Diktatoren wie Pinochet in Chile oder die Militärjunta in Argentinien Verbündete des Westens. Die USA intervenierten mehr oder weniger offen militärisch und geheimdienstlich zugunsten der Diktatoren. Westdeutschland nutzte die Situation, die durch die Niederschlagung der Arbeiterbewegungen in Chile, Brasilien oder Argentinien entstand, um seine dortigen Handelsbeziehungen zu intensivieren. Dabei machten sich auch deutsche Unternehmen zu Komplizen der Diktatur, wie VW do Brasil bei der Folterung von Gewerkschaftlern oder Mercedes-Benz Argentinien beim Verschwindenlassen von Betriebsräten.1 Als das Zeitalter der Menschenrechte in den 1980er Jahren allmählich in Gang kam, diente die westliche Menschenrechtspolitik eigenen politischen Interessen, besonders der Delegitimierung der Sowjetunion.