After WokeJens Balzer
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Links ≠ WokeSusan Neiman
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Das Wort «woke» taucht fast nur noch in programmatischen Texten von in keiner Weise satisfaktionsfähigen Öffentlichkeitsteilnehmern wie AfD oder FPÖ oder bei Putinisten auf, und zwar als Zielscheibe rassistischer, aber auch antiintellektueller Aggressionen. Wie schon bei früheren Schmähslogans gegen intellektuelle Linke («politisch Korrekte», «Gutmenschen») hat es selten jemanden gegeben, der sich selbst «woke» im Sinne einer politischen Überzeugung genannt hat; allenfalls als Mentalität oder Maxime («stay woke!») fand das Wort Verwendung. Traktate, Manifeste, überhaupt argumentierende Texte, die sich eine Position mit diesem Namen zu eigen machen, gibt es nicht. Die meisten Erwähnungen von «Woke» oder «Wokeness» sind reine Demagogie.

Das Schattenboxen gegen «Woke» oder «Wokeness» umfasst neuerdings aber auch Schriften, die einen anderen Grundton haben und sich als Äußerungen ehemaliger Sympathisant:innen zu erkennen geben: Enttäuschung und Erschrecken über das Verhalten der eigenen Freund:innen, der eigenen intellektuellen Familie. Es sind Texte, die sich wie Protokolle einer Scheidung lesen, schleichende Entfremdung, Fassungslosigkeit über Untreue. Bei Susan Neiman ist es vor allem der «Wert» des Universalismus, gegen den die Woken ein «Stammesdenken» mobilisiert hätten, und die «Aufklärung», auf deren Boden sie nicht mehr stünden. Bei Jens Balzer ist es die Untreue gegen die Errungenschaft des Antiessentialismus, der sich in den 1990er-Jahren um einen «Postkolonialismus» gebildet habe, der noch in Ordnung gewesen sei und von Denker:innen wie Stuart Hall oder Édouard Glissant geprägt wurde. Die dazu passenden Werte artikulierte wiederum eine Musik, die Balzer als einer der einflussreichsten und produktivsten deutschen Pop-Musik-Autor:innen unterstützt hat – doch einige von deren Repräsentant:innen sind nun bei den Queers for Palestine.

Obwohl ich bei denen noch nicht mitgegangen bin, aber eben auch nicht mit der IHRA-Definition von Antisemitismus in der Hand durch den weitgehend streberhaft homogenisierten Blätterwald des Feuilletons schreite und als alter Gegenkulturalist in Neimans Aufklärungsnormalismus auch nicht einstimmen kann, fühle ich mich in beiden Fällen wie die möglicherweise gemeinte und des Ehebruchs bezichtigte Person. Muss dann allerdings nach vollzogener Lektüre beider Bände feststellen, dass Balzer und Neiman, als deren rares, aber geteiltes Alleinstellungsmerkmal man eben noch ansehen konnte, dass sie Woke von links kritisieren und vielleicht sogar verbessern wollen, es miteinander wohl auch nicht mehr ausgehalten hätten: Sie sind auf so verschiedene Weise anti-woke, dass man meinen könnte, nach Gebrauch beider Traktate sei die Wahrheit der Wokeness trigonometrisch zu ermitteln: als Mitte von zwei gleichschenkligen Verfehlungen?

Das ungute Gefühl über den Dissens bleibt: Leute wie Balzer und Neiman sind von Haus aus eher Bündnispartner:innen, gerade in der aktuellen Situation. Neiman als Autorin, die eine Traditionslinie linker Positionen zusammenhalten will und auch am Begriff «links» und vor allem an dessen jüdisch-afroamerikanischer Tradition festhält; Balzer als jemand, der «liquide» und hedonistische Positionen und eine Politik des Nachtlebens verteidigt. Aber vielleicht stammt der Imperativ, die Reihen geschlossen zu halten, doch eher aus der Sprache der Gegenseite, und vielleicht ist die Angst vor der Scheidung nur eine Deckangst vor den größeren Problemen, die wir haben und noch bekommen werden.

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Bankrott oder McCarthy

Für Balzer vollzog sich der Bruch nach dem 7. Oktober, als sich angeblich viele woke Intellektuelle und auch die Berliner Clubkultur nicht von den Massakern der Hamas distanzierten oder gar mit diesen sympathisierten. Das ist ein ziemlich ungeheuerlicher Vorwurf und die Prämisse für den linken «Bankrott», von dem Balzer durchgängig spricht, weswegen man Belege dafür genau lesen möchte. Er nennt insbesondere drei: einen hot take Tariq Alis für die New Left Review, die eher nicht als ein Mutterschiff des Wokismus bekannt ist, einen ungenau zitierten Artikel aus n+1 und den berüchtigten Tweet «What did y’all think decolonization meant?» der somalisch-amerikanischen Journalistin Najma Sharif. Neiman, deren Buch einige Wochen vor dem 7. Oktober erschienen war, hat die zuweilen befremdlich inquisitorische Suche nach solchen Sympathien, die für die Hamas kein:e einzige:r deutschsprachige:r Intellektuelle:r tatsächlich geäußert hatte und die in den bekannten Ausladungen und Demütigungen von Nancy Fraser, Masha Gessen oder Laurie Anderson mündeten, McCarthyismus genannt.

Obwohl sich Balzer natürlich nicht für McCarthyismus ausspricht, sondern eher Clubkultur und Pop-Musik, seine eigene Szene also, nach unangemessener Palästinafreundschaft absucht, braucht man nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, dass man nicht nur auf unterschiedliche Weise «gegen woke» sein kann, sondern auch auf antagonistische Weise von links oder von «ehemals sympathisierend» gegen woke oder anderweitig linke Positionen schreiben kann – und das betrifft dann nicht nur die naturgemäß vage Kategorie des «Woke», sondern auch die anderen gewaltigen, wenn auch nicht unerwarteten Begriffstanker, die hier die Spree und die Havel runterdümpeln: Aufklärung, Identitätspolitik, Universalismus, Postkolonialismus, Antisemitismus.

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