Lechts und Rinks

Die rechtspopulistischen Parteien Europas, von denen es heißt, sie bedrohten die liberale Demokratie, gelten als programmatisch seltsame, unwahrscheinliche Gebilde. Viele von ihnen stellen inzwischen eine im Vergleich zu den etablierten Parteien neuartige und ungewöhnliche ideologische Verbindung her: Sie kombinieren wirtschafts- und sozialpolitisch eher linke mit gesellschaftspolitisch deutlich rechten Positionen. Damit durchbrechen sie ein vertrautes Muster, das für lange Zeit das (zumindest westeuropäische) Politikverständnis prägte. Der politische Raum schien im Wesentlichen zwischen zwei Dimensionen aufgespannt: einer ökonomischen (who gets what?) und einer kulturellen (what counts as normal?). Stand eine Partei in einer dieser Dimensionen rechts bzw. links, dann tat sie das in der Regel auch in der anderen.

Konservative Parteien kombinierten eine eher marktfreundliche und umverteilungsskeptische Politik mit der Betonung von law & order und traditionellen Familienwerten, linke Parteien die Befürwortung von mehr Umverteilung, höheren (Einkommen-)Steuern und großzügigem sozialen Schutz mit eher libertären oder postmaterialistischen Werten in Fragen der sexuellen Selbstbestimmung, des Abtreibungsrechts und der Betonung individueller Schutzrechte gegenüber dem Staat. Erst durch die Kongruenz in den beiden Dimensionen konnte die abstrakte Redeweise von rechts und links für sich in Anspruch nehmen, die Hauptachse des politischen Konflikts abzubilden. Eine Partei wie die FDP positionierte sich bürgerrechtsliberaler als die SPD und zugleich marktliberaler als die CDU. In der Gesamtsicht konnte sie dann trotzdem als «mittig» erscheinen.

Die meisten populistischen Parteien, die anfänglich und mitunter sehr dezidiert wirtschaftsliberale und somit in dieser Dimension «rechte» Positionen vertraten – einige sogar, wie Fidesz, mit anfangs zustimmender Haltung zur EU –, haben einen Wandlungsprozess durchlaufen, der sie sozial- und wirtschaftspolitisch linker werden ließ. Sie traten nach und nach für ein Mehr an Umverteilung und sozialem Schutz ein, für die Bewahrung des nationalen Wohlfahrtsstaats und eine eher protektionistische Wirtschaftspolitik. Dazu gesellten sich ihre gesellschaftspolitisch antiliberalen Positionen: EU-Skepsis, Ablehnung von Migration, «Verteidigung des europäischen Abendlandes», Anti-Islamismus, «christliche Familienwerte» gegen LGBTQ+ und Ähnliches.

Als Latecomer unter den europäischen Rechtsextremen hat die AfD diesen Prozess im Schnelldurchlauf absolviert. Als ordoliberale Professorenpartei der Luckes, Starbattys, Henkels und Meuthens gestartet, getrieben von der Euro-Krise 2010ff. und dem Bruch des No-Bailout-Versprechens von Maastricht, war ihre sozialpolitische Programmatik zunächst neoliberal. An der Formulierung eines Rentenkonzepts brach der Konflikt zwischen dieser älteren, ordoliberalen und «g/wutbürgerlichen» West-AfD und der neuen, radikaleren, teils proletarischeren, teils kleinbürgerlicheren Ost-AfD dann offen aus. Nach dem Parteiaustritt des überwiegenden Teils des ordoliberalen Flügels ist klar, welche programmatische Linie – auch in der Sozialpolitik – sich bei den Rechtspopulisten der Alternative für Deutschland durchgesetzt hat.1

Der schnelle programmatische Wandel der AfD von Lucke zu Höcke ist allerdings kein bundesdeutscher Sonderweg. Viele rechtspopulistische Parteien haben ihn ähnlich durchlaufen, ob Orbáns Fidesz oder Geert Wilders’ PVV, Berlusconis Forza oder der französische Rassemblement National von Marine Le Pen als Fortentwicklung des Front National ihres Vaters. Fast alle diese Parteien waren wirtschaftspolitisch klar liberal gestartet, mit dem schlanken Staat als Ideal. In den 1990ern galt dies als neue winning formula (Herbert Kitschelt) in einer Koalitionsbildung aus absteigenden Kleinbürgern und sich zu den Globalisierungsverlierern rechnenden Arbeitern. Die Neuen Linken – etwa die grünen Parteien – galten demgegenüber als protektionistisch und umverteilungsfreundlich.

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Genau das traf aber immer weniger zu, denn während die Rechtspopulisten sich wirtschafts- und sozialpolitisch immer mehr nach links orientierten, stützen die neuen Linken mit ihrer proeuropäischen Position nolens volens die neoliberale Dimension des Einigungsprojekts mit all seinen sozioökonomischen Verwerfungen, die für die eigene Klientel ja aber auch weniger problematisch waren. Der Rassemblement National solidarisierte sich 2018 mit dem Streik der französischen Eisenbahner, lehnte Macrons Rentenreform ab und forderte stattdessen eine Senkung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre sowie eine Rückabwicklung der vom Parti Socialiste initiierten Arbeitsmarktreform von 2016. Die Schwedendemokraten wollen den generösen schwedischen Wohlfahrtsstaat vor starker Immigration schützen; die dänische Sozialdemokratie übernimmt ähnliche Positionen, was als ihr Erfolgsrezept gegen die Rechtspopulisten gilt.

Die PiS in Polen führte ein generöses Kindergeld ein und erhöhte während ihrer Regierungszeit von 2015 bis 2023 den Mindestlohn um mehr als 50 Prozent; Fidesz gerierte sich als Garantin der kleinen ungarischen Halter von Fremdwährungskrediten und Schutzpatronin gegen «ausländische Banken». Ohnehin profitierte Orbán, als er 2010 in der Zeit der Weltfinanzkrise an die Macht kam, von der weitverbreiteten Unzufriedenheit mit der liberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik seiner sozialdemokratischen Vorgängerregierung. Die PiS-Partei wiederum wurde aus Protest gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik der polnischen Bürgerplattform gewählt, wenngleich im Oktober 2015 eine Abwehrhaltung gegen Merkels Migrationspolitik und ihre europäischen Auswirkungen bereits ein Motiv gewesen sein dürfte. Wer einen Blick in den Koalitionsvertrag der neuen niederländischen Regierung unter maßgeblicher Beteiligung von Geert Wilders’ PVV wirft, entdeckt ein ähnliches Muster: Senkung der Krankenkassenbeiträge, Investitionen in den sozialen Wohnungsbau, radikale Reduktion der Migration.

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