Ist Sitzen Gewalt?
Anfang November 2022 starb eine Radfahrerin nach einem Verkehrsunfall im Krankenhaus, nachdem der Rettungswagen in einem von Klimaaktivist:innen verursachten Stau auf der Berliner Stadtautobahn steckengeblieben war. Auch wenn ihr Tod letztlich nicht auf die staubedingt verzögerte Ankunft im Krankenhaus zurückgeführt werden konnte, veranlasste der Fall die Bundesinnenministerin Nancy Faeser zu folgenden Aussagen: «Wenn Straftaten begangen werden und andere Menschen gefährdet werden, ist jede Grenze legitimen Protests überschritten. All das hat mit einer demokratischen Auseinandersetzung überhaupt nichts zu tun. Die Straftäter müssen schnell und konsequent verfolgt werden.»
Mit ähnlicher Vehemenz kritisiert immer wieder prominent der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, die Aktivist:innen insbesondere der Letzten Generation: Er spricht von ihnen als «Extremisten», «Chaoten» und «Kriminellen». Diese Einschätzungen von ungehorsamen Protesten sind nicht neu. 1969 entschied der Bundesgerichtshof in einem Fall, in dem Studierende sich auf Schienen gesetzt hatten, um einer Straßenbahn den Weg zu blockieren und so gegen eine Preiserhöhung zu protestieren. Dieses Verhalten als legal zu betrachten, laufe, so der Bundesgerichtshof im berühmten «Laepple-Fall», auf die Legalisierung eines von militanten Minderheiten verübten Terrors hinaus, welcher mit der auf dem Mehrheitsprinzip fußenden demokratischen Verfassung, letztlich aber auch als Verstoß gegen das Prinzip der Gleichheit aller vor dem Gesetz, mit den Grundsätzen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar sei.
In seiner Urteilsbegründung bewertete der Bundesgerichtshof die Kölner Sitzblockade unter anderem als Nötigung nach § 240 Strafgesetzbuch. Danach wird bestraft, wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt. Inwiefern aber schon ein bloßes Sitzen als Gewalt angesehen werden kann, wird seither in der Rechtsprechung und Rechtswissenschaft diskutiert. Der Bundesgerichtshof argumentierte, dass die Protestierenden durch ihr Verharren auf den Gleisen eine Gewalthandlung gegenüber dem Straßenbahnführer ausgeübt hätten, da sie ihn gezwungen hätten anzuhalten. Für die Anwendung von Gewalt sei es ausreichend, wenn auch mit geringem körperlichem Kraftaufwand ein «psychisch determinierte[r] Prozeß» in Gang gesetzt werde. Entscheidend sei hierbei, «welches Gewicht der von ihnen ausgeübten psychischen Einwirkung» zugekommen sei: «Stellt sich ein Mensch der Bahn auf den Schienen entgegen, so liegt darin die Ausübung eines Zwanges, der für den Fahrer sogar unwiderstehlich ist, denn er muss halten, weil er sonst einen Totschlag beginge.»
Es kam dem Gericht also nicht auf die körperliche Kraftentfaltung an, sondern auf die rein psychischen Auswirkungen auf den betroffenen Straßenbahnfahrer. Die weitere Argumentation konzentriert sich darauf, zu begründen, worin die Zwangsausübung liegt, wenn sie nicht auf körperliche Weise stattfindet. Unklar bleibt, ob sich das Argument auf einer moralisch- oder juristisch-gesetzlichen Ebene vollzieht. Wahrscheinlich jedoch auf beiden: Ich darf einen Menschen einerseits nicht überfahren, weil ich sonst einen Totschlag beginge (§ 212 Strafgesetzbuch), andererseits aber auch deswegen nicht, weil ich ein zwingendes, «unwiderstehliches» moralisches Gebot übertreten würde. Was das Gericht hier nicht nur als gewaltlose, beispielsweise rein verbale, Nötigung versteht, sondern als Gewaltausübung, ist mit anderen Worten: der Einsatz der eigenen Verletzlichkeit als (Zwangs-)Mittel.
Der vergeistigte Gewaltbegriff
Lesen wir dieses Urteil zusammen mit den eingangs zitierten Aussagen über die Klimakleber, die von Innenministerin und Polizeipräsident als geradezu terroristische, mit Demokratie und Rechtsstaat unvereinbare Akteur:innen eingeordnet werden, dann wird deutlich: Es geht nicht nur um die unmittelbaren Folgen des Blockierens, also darum, dass ein Straßenbahnfahrer nicht mehr weiterfahren kann. Vielmehr wollte die Laepple-Entscheidung verhindern, dass sich die Protestform der Sitzblockade – also der Einsatz der eigenen Verletzlichkeit – als ein gerechtfertigtes Mittel der politischen Kommunikation etabliert. Um zu diesem Schluss zu gelangen, musste der Bundesgerichtshof bereits den Begriff der Gewalt so definieren, dass er das In-Stellung-Bringen des eigenen Körpers umfasst.
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