Als ich im Sommer dieses Jahres wieder meine Reise nach Mykolajiw plante, musste ich meine Angst überwinden. Für viele «Nicht-Militärangehörige» sind Reisen durch die unberechenbare und instabile Frontzone nur dann möglich, wenn sie zu Verwandten, engen Freunden oder zu den Orten ihrer Kindheit fahren. Das Wissen um die Gegend und das Gefühl für ihre Vorkriegszeit erlauben es, so eine Reise zu planen. Es ist, als wäre der Krieg eine uralte, unberechenbare Epidemie, und es fällt leichter, einen an Pest Erkrankten zu besuchen, wenn man ihn früher als vollkommen Gesunden kannte. Solch eine Erinnerung garantiert kein Überleben, aber sie erlaubt, sich in der Fantasie einen Raum zu schaffen, in dem das «zivile», friedliche Leben größer und bedeutender ist als die Kriegshandlungen.

Ich schob die Reise wochenlang vor mir her. Ich wollte nur ein paar Tage in Mykolajiw bleiben, aber alle Rückfahrkarten von Mykolajiw nach Kyjiw waren für die nötigen Tage ausverkauft. Außerdem fuhren die Züge nicht jeden Tag. Bilder von beschossenen Bahnhöfen tauchten in meinen Erinnerungen auf. Alle Ausgänge, Ausfahrten aus der Stadt könnten jederzeit geschlossen werden. Und der nächste Gedanke: «Ich kenne dort niemanden!» Es ist nicht üblich heute, über solche Ängste zu sprechen. Sie scheinen über die «Regeln und Gebräuche des Alltags im Krieg» hinauszugehen, wo Angst nur in Verbindung mit unmittelbarer Gefahr oder Verwundung aufkommen darf.

The best of Berlin Review
Our free weekly Newsletter

Sign up

Anfang 2023 diskutierte ich die Situation der Städte an der Frontlinie mit einem Freund und Menschenrechtler. Erschüttert sprach er über Mykolajiw: «Fahre dorthin! Es ist ein besonderer Fall: eine Stadt, fast ohne Trinkwasser. Einige Bezirke bleiben tagelang ohne Wasser. Und wenn es doch wieder da ist, fließt Salzwasser aus dem Hahn, man muss die Hände abspülen, damit sie nicht kleben. Jeder Schritt wird durch die Frage nach dem Wasser erschwert. Die Front ist sehr nah, Mykolajiw wird beschossen.»

Ein Teil meiner Familie stammt aus Mykolajiw, ich besuchte diese Stadt vor dem Krieg einmal, auf der Durchreise. Als ich der Beschreibung dieser Infrastrukturkatastrophe zuhörte, versuchte ich, mir die Stadt so ins Gedächtnis zu rufen, wie sie vor dem Krieg war.

Ich erinnerte mich an eine Fußgängerzone im Stadtzentrum, das im Sommer von jungen Menschen überfüllt schien. Die Erinnerungen lieferten mir so etwas wie eine Postkarte: «Die Fußgänger lachten, kauften Eis und aus allen Ecken klang Musik.» Alle meine Versuche, mich an noch etwas anderes zu erinnern, brachen ab und hinterließen in mir die theoretische Schlussfolgerung, dass Mykolajiw eine kaum entdeckte, südliche Stadt in der Ukraine sei, in der man sich entspannen konnte und in der viele ihre Wochenenden verbrachten.

Mykolajiw, mit seiner komplexen industriell-postindustriellen Geschichte, liegt nicht nur in einem der Epizentren des russisch-ukrainischen Krieges. Diese Stadt hat in diesem Krieg früher als andere einen Angriff auf ihre Infrastruktur erlebt. Es handelt sich um jenen Aspekt dieses Krieges, der sich in jedem lokalen Fall in eine umfassende humanitäre Katastrophe ausweiten kann, die alle Lebensbereiche einer Stadt betrifft.

Es ist offensichtlich, dass ein solcher Krieg auf verschiedene Arten gegen alle großen Städte der Ukraine geführt wird. In Mykolajiw erreichte er ein besonderes Ausmaß. Im Frühjahr 2022 wurde die Trinkwasserversorgung dieser Stadt mit einer halben Million Einwohnern zerstört.

Foto: Yevgenia Belorusets

«Wasser als Waffe»

Der Generaldirektor des Wasserwerks, Borys Dudenko, empfing mich Anfang September wieder in seinem Besprechungszimmer. Erneut führte ich ein Interview mit ihm, und während ich das Diktiergerät einschaltete, bemerkte ich, dass meine Aufmerksamkeit nicht so sehr auf unser Gespräch gerichtet war, als vielmehr auf die Unterschiede zwischen diesem Interview und jenem, das ich 2023 mit ihm geführt hatte.

Das Gespräch an sich war weit davon entfernt, abgerundet zu sein. Sich auf eine «Geschichte», eine «Erzählung» über das Wasserwerk zu konzentrieren, war schwierig. Die Situation der Stadt im Jahr 2024 unterscheidet sich kaum von der Situation des Vorjahres: «Das Wasserproblem ist immer noch nicht gelöst. Aber wir suchen kreative, neue Lösungen. Und wir haben die Einwohner der Stadt mit Trinkwasser versorgt.»

Vor dem Direktor, auf dem langen Tisch, der für Versammlungen gedacht ist, lagen «Artefakte des Erbes» – Fragmente rostiger sowjetischer Rohre. Sie waren an den Tisch geschraubt, jedes Exemplar mit einem kleinen Schild versehen, das seine Parameter angab. In der Ecke des Zimmers stand ein weiteres Rohr – ein schweres, breites Modell. Das Metall war von Rost und Korrosion zerfressen, dünn und eingerissen. Wie ein mottenzerfressenes Stück Stoff. Diese Ausstellungsstücke sollten beredtes Zeugnis über den katastrophalen Zustand des Wasserversorgungssystems ablegen.

Einer der Arbeiter des Wartungspersonals versuchte, es mir zu erklären: «Wir fahren jeden Tag zu sieben, zehn oder zwölf Notfällen. Manchmal sind es mehr. Jeden Tag graben wir Löcher, flicken Rohrstücke, tauschen etwas aus und vergraben es wieder. Verstehen Sie? Es ist unmöglich, das ständig zu tun. Und uns fehlen auch die Leute – sie werden nacheinander eingezogen. Wie soll man das erklären?»

Das heißt, sie werden einberufen, an die Front. Er versuchte, mir seine Arbeit verständlich zu machen, doch eine hilflose Wut überkam uns beide. Es ist kaum möglich, die Verzweiflung zu übermitteln, die mit dem täglichen Kampf verbunden ist, das Leben in einem weit verzweigten Wasserversorgungssystem aufrechtzuerhalten. Wasser, wie auch Strom und die Infrastruktur insgesamt, ist nicht nur der Hintergrund des Alltags. Es ist die unsichtbare Grundlage, die von bedeutenderen und auffälligeren Erscheinungen überlagert wird. Erst wenn die Infrastruktur zusammenbricht, rückt sie plötzlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit, der sie früher entgangen ist. Aber über sie zu sprechen, bleibt schwierig. Es ist, als ob sie irgendwo im Feld der kollektiven Stummheit zerfällt, einer stummen Anstrengung, die mit dem Fortbestand des Zusammenlebens, des Stadtlebens verbunden ist.

Der Krieg in Mykolajiw begann in der Nacht zum 24. Februar 2022. An diesem Tag erfuhr ich um 9 Uhr morgens vom Krieg – meine Schwester rief mich an. Die Einwohner von Mykolajiw wurden mitten in der Nacht von Beschuss geweckt. Vom 12. bis zum 24. März fanden direkte Kämpfe auf den Straßen der Stadt statt. Die russische Artillerie war nahe, Häuser brannten nieder, Menschen starben auf den Straßen. Nach dem 24. März 2022 wurde die russische Armee bis an die Grenze des Verwaltungsgebiets Mykolajiw zurückgedrängt.

Foto: Yevgenia Belorusets

Es könnte sich um einen Racheakt handeln: Am 29. März 2022 führte die russische Armee einen Raketenangriff auf das Gebäude der Regionalverwaltung von Mykolajiw durch. Das Bild der Zerstörung wurde zu einem der Symbole dieses Krieges. Damals schien es ein Zeugnis von etwas Widernatürlichem, Antinatürlichem zu sein. Es war, als hätte ein riesiger Kiefer ein Stück aus dem Zentralgebäude der Verwaltung herausgebissen. Das unregelmäßige, riesige Loch ließ die Stadt wie ein Spielzeug aussehen. Die Stadtverwaltung war aus Papier, sie konnte mit einer Handbewegung zerrissen werden. Dieser Schnitt, die Entfernung von Baumaterial und Leben, war ein Akt der Opferung für die Idee des Sieges und der Dominanz. 37 Menschen starben, 33 wurden verletzt. Aus verschiedenen Gründen befanden sich alle diese Menschen zum Zeitpunkt des Raketenangriffs im Gebäude der Verwaltung.

Ich erinnere mich, dass ich, als ich das Foto dieser Zerstörung im März 2022 sah, sofort zu weinen begann. Eine kindliche Reaktion? Hilflosigkeit?

Emotionen, die man nicht mehr erwähnt, weil sie nichts ändern oder eine unwillkommene Schwäche zeigen. Ich weinte wegen der zufällig Getöteten, wegen der bloßen Idee einer solchen «Bestrafung», «Erpressung», «Abschreckung».

Wegen meiner Angst, dass nicht nur für «sie», sondern auch für «uns» das menschliche Leben bald sehr wenig wert sein würde? Denn eine solche demonstrative Vernichtung des Lebens wird den Anspruch erheben, zu einem globalen Spektakel, einem allgegenwärtigen medialen Bild zu werden.

Vor mir befand sich eine Art Denkmal dieses Krieges, eine riesige Wunde im Gebäude der Verwaltung. Es war auch ein monumentales Projekt des Krieges, ein Projekt unserer Zukunft.

In gewisser Weise war dieses zerstörte Gebäude auch eine entwertete Eintrittskarte. Wir sind alle «durchgekommen», wir wurden «hineingelassen» in eine Situation, die von Kräften gesteuert wird, die viel mächtiger sind als der Wille eines einzelnen Menschen, das Leben anderer zu behüten – sowohl das derjenigen, die ihm nahe sind, als auch das seiner Feinde, falls er welche hat.

Der Beschuss ging weiter. Bis Juni 2022 wurden in Mykolajiw über fünfhundert Stadtbewohner verletzt und mehr als hundert getötet.

Foto: Yevgenia Belorusets
Foto: Yevgenia Belorusets