Präambel

Über das zu schreiben, was alle gerade umtreibt, ohne selbst mehr zu wissen, ist eine komische Übung. Früher hätte dieser Autor sich das als den Job der Ideologiekritik erklärt: nicht basierend auf besonderem Faktenwissen sprechen, sondern anhand von Kenntnissen über die Verbindung von Wissensformen und ihren politischen Zwecken. Ideologiekritik erscheint aber schon länger wie ein stumpfes Schwert. Es sind nicht mehr die großen oder illusionären Erzählungen, die die eigentlich zum Zorn berechtigte Masse sedieren oder zum Schweigen bringen; im Gegenteil sind es zahllose kleine, mäandrierende und metastasierende Erzählfäden, die die Leute mobilisieren. Wenn man sich in dieser ziemlich fortgeschritten ausweglosen Lage orientieren will, braucht man weniger eine Kritik, die vom virtuell sicheren Ort eines nichtideologischen Wissens formuliert sein will, als vielmehr eine Anamnese dieser Mobilisierung des protofaschistischen Gegenübers – nicht zuletzt, um dem Furor der Bestie nicht auf den Leim zu gehen.

Jahrelang habe ich argumentiert, dass man all den neuen rechten und religiösen Bewegungen, Parteien, Sekten und Kirchen nicht den Gefallen tun sollte, sie in ihrer Besonderheit erstaunt zu diskutieren, sondern sie als neotraditionell bezeichnen sollte, um damit erstens zu gewinnen, dass man anstelle irgendeiner zur Legitimation herangezogenen völkischen, religiösen oder kulturellen Besonderheit stets das Gemeinsame von AfD und Al-Kaida, IS und Evangelikalen, Putin und dem gesunden Volksempfinden hervorhebt, und zweitens fähig zu sein, sie als Effekte und Symptome der neoliberalen Zerstörung weltlicher Veränderungspotenziale zwischen Sozialismus, Gegenkultur und sozialdemokratischem Wohlfahrtsstaat zu beschreiben: Neotraditionalismus ist immer die Fetischisierung der nächstbesten (meist fiktiv traditionellen) Sinnressource, nachdem der (neoliberale) Kapitalismus eine Stadt, eine Produktionsweise, eine Community, eine Lebensform und vor allem aber das, was sich rational gegen ihre Zerstörung stellen konnte (Kritik, Linke, Gewerkschaften) neutralisiert, liquidiert und ruiniert hat. Drittens war so außerdem klar, dass es nichts bringt, mit diesen Rechten zu reden, denn ihre Ressourcen sind so gestrig wie ihr jeweiliger Gegenstand – und damit diskursiv erledigt, «ausdiskutiert» von der Geschichte. Mit Rechten muss der Arzt reden, es gibt an ihnen nichts zu erkennen oder zu verstehen außer im soziopathologischen Sinn.

Schließlich ist für diese Entwicklung die Benennung «Populismus» falsch. Zum einen, weil sie unklar lässt, ob jeweils ein Politikstil (vereinfachend, parolenhaft, verkürzend) oder ein Inhalt gemeint ist (Bezug auf das Volk, den «wahren Volkswillen»); zum anderen, weil auch die zweite Bedeutung das Wesentliche unterschlägt: das Volk ist nur ein möglicher Bezugspunkt für Rechte, daneben gibt es Gott, das Handwerk, die Scholle, die Familie, die traditionelle Geschlechterordnung, die Weißen, den Heteromann etc. Deren Austauschbarkeit ist für die Mobilisierung das Entscheidende, überall dort, wo die abstrakte Dominanz des Kapitals in der Gestalt des Neoliberalismus a) zugeschlagen und b) andere, rationale Antworten ausgeschaltet hat.

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Völkisch libertär

Jetzt muss ich mich korrigieren. Übersehen hat diese Beschreibung eine durch die Freundschaft von Musk und Trump augenfällig gewordene, natürlich aber schon länger köchelnde Verbindung zwischen dem Neotraditionalismus mit seiner Fixierung auf eine fiktive und wiederherzustellende Vergangenheit und dem neuesten digitalkulturellen Stand der libertären Ideologie. Letztere ist in den USA immer mal wieder von sogenannten Third-Party-Kandidaten oder diversen Ex-Gegenkulturellen vertreten worden, seit zwanzig Jahren aber auch prominent von der so genannten kalifornischen Ideologie, mit ihrem ausgeprägten Einfluss auf das Silicon Valley.1 Vieles vom oben Gesagten trifft zwar auch noch auf die sogenannte Alt-Right-Szene zu. Aber sie bemühte sich – erst wahllos, dann gezielt – um einen symbolischen und ideologischen, dann auch realistischen Gegenwartszugriff: das Internet, neuere marginale Kulturen, «Incels» etc.: Rechte, die sich nicht traditionell, sondern digital um das Lagerfeuer eines gemeinsamem Hassthemas organisierten.