The University of Wisconsin Press $32,95 292 S.
Jeder einmal in Berlin! So warb die Hauptstadt der Weimarer Republik in den 1920er Jahren, um Besucher anzulocken. Für andere wurde sie unfreiwillig zur neuen Heimat. Die Oktoberrevolution und der Bürgerkrieg zwischen Roten und Weißen führten zu einem frenetischen Massenexodus aus der noch jungen Sowjetunion. Allein zwischen 1921 und 1925 ließen sich fast eine halbe Million sowjetischer Bürger aller Couleur in Berlin nieder – Kommunisten, Anti-Kommunisten, Konservative, Ukrainer, jiddische Dichter, Kriegsgegner, Émigrés, Schaulustige, Aktivisten, Opportunisten, Flüchtlinge, Migranten, Exilanten, Künstler, Staatenlose, Monarchisten, Verbannte, Touristen. Berlins Russen lebten hauptsächlich im bürgerlichen Bezirk Charlottenburg, das sie bald «Charlottengrad» nannten.
Das russische Berlin wird gerne als antibolschewistische Insel im Herzen Europas gemalt, besiedelt von verblasster Aristokratie und Dissidenten des Sowjetregimes. Im Schatten des aktuellen Kriegs in der Ukraine, der einen neuen Exodus mit sich bringt, erzählt Roman Utkin eine andere Geschichte. In seinem Charlottengrad sitzen Linke mit Reaktionären Schulter an Schulter in Restaurants, Schwulenbars und Cabarets. Das russische Berlin erscheint in seiner Darstellung weder als Bollwerk gegen den Bolschewismus noch als bürgerliche Blase; es ist ein Spektrum aus Rot-, Weiß- und Grautönen – die westlichste Metropole der Sowjetunion?
Fernab vorschneller Eindeutigkeiten ergründet Utkin das russische Berlin hinsichtlich seiner imaginierten Identitäten und urbanen Verflechtungen, über die sich eine russische (und mehr-als-russische) Exilkultur tief in die Weimarer Moderne einschrieb: politisch ambivalent, gespalten und queer. Nach der kurzlebigen Annäherung zwischen Weimarer Republik und Sowjetrussland mit dem Vertrag von Rapallo im Jahr 1922 blühte der Reiseverkehr zwischen Ost und West auf. Berlin wurde Russlands Fenster zum Westen, die scharfe Trennlinie zwischen Heimat und Exil, Russland und «Europa», Realität und Projektion gelockert und manchmal ganz aufgelöst. Das Weimarer Charlottengrad war Utkin zufolge «ein bunter Flickenteppich ethnischer Gruppen», die sich auf Russisch mit deutschem, ukrainischem, polnischem oder jiddischem Einschlag verständigten1.
Geografisch erstreckt sich dieses russische Berlin der zwanziger Jahre von der Ulitsa Tauentzienskaja bis zum Kurfürstendamski Prospekt. Die Beziehungen zwischen den Exilierten sind brüchig, Identitäten im Fluss. Berlin ist Pufferzone und Zwischenspiel, eingepfercht zwischen Ost und West und den beiden verheerenden Weltkriegen – eine Stadt im Schwellenzustand, die Gegensätze erst produziert, dann aufhebt. Utkin beschreibt die Exilerfahrung als «Emigration auf Probe», nicht primär als Fluchtgeschichte, sondern (im feinen Unterschied) als «permanente Emigration», die das Idyll einer linear voranschreitenden Biografie – und Geschichte – zunichtemacht. Man kommt nicht umhin, diese Situation der traurigen Gegenwart anzunähern: Auch heute, hundert Jahre später, bestimmt das Gefühl des «permanenten Provisoriums» die Kriegs- und Fluchterfahrungen der aus dem Osten kommenden Migranten. Nicht mehr zuhause sein können und zugleich nirgendwo ankommen.