Hanser Feb 2025 €22 192 S.
«Du bist was ganz Besonderes.» Dieser Satz ist für Helene Bracht das, was viele einen Trigger nennen, doch sie nennt ihn zum Glück nicht so. Stattdessen macht sie sehr anschaulich, was der Satz oder eine Variation davon in ihr auslösen kann: Fluchtreflexe, Pulsrasen, Wut – und dann legt verlässlich die Scham los: «Aus einer unbestimmten Stelle in meinem Unterbauch quillt diese hervor und ergießt sich wie heißes Öl in alle Kanäle meines Inneren, breitet sich aus, gründlich, bis auch die letzte Zelle davon erfasst ist. Ich verfolge den Vorgang mit forschender Genauigkeit … Aufhalten kann ich nichts, nur beobachten.»
Diesmal wurde das «Affekt-Spektakel» von einer Frau heraufbeschworen, die sich in einem Ferienclub zu Bracht an den Tisch gesetzt hat. Bracht ist in diesen Club gefahren, um an einem Buch zu arbeiten, das nun erschienen ist. Der Wortwechsel mit der Frau liegt also nicht sehr lang zurück, vermutlich war Bracht da kaum jünger als heute, und heute ist sie siebzig. Das, was wiederum vom «Affekt-Spektakel» heraufbeschworen wird, liegt schon fast ein ganzes Leben zurück. Zu Beginn der 1960er Jahre wurde die fünfjährige Bracht erstmals von einem Mann sexuell missbraucht, der später ihr Nachhilfelehrer wurde und sie weiter regelmäßig missbrauchte.
Am Anfang von Brachts Debüt Das Lieben danach steht in mehrfacher Hinsicht dieser Missbrauch. Das letzte Mal, das er stattfand, schildert Bracht früh im Buch, aus der Sicht der Achtjährigen, die sie damals war. Die kennt den Ablauf: die angenehmen, unangenehmen und schrecklich schmerzhaften Berührungen, das Stöhnen des Manns hinter ihr, sein Lob und seine Zärtlichkeit, wenn der schlimme Teil vorbei ist. Dass er dann «Du bist was ganz Besonderes» sagt und ihr das gefällt und sie stolz ist.
Erschütternd präzise beschreibt Bracht, wie sie als Kind ein Geschehen erlebt hat, für das sie noch keine Bewertungen kannte. Um es einzuordnen, war sie auf das Framing angewiesen, das der Täter den Vorgängen gab, weshalb sie ihn nicht als Täter wahrnahm. Er fügte ihr immer wieder physische Schmerzen zu, sie fürchtete seinen Zorn – und fühlte sich zugleich von ihm geliebt, sah in ihm einen Vertrauten, mit dem sie ein Geheimnis teilte, das sie niemals verraten würde.