So manche Chinesen, die heute nach Taipeh kommen, wollen dort nur Stillstand sehen, eine geradezu dörflich anmutende Verzögerung jener ruppigen Hypermoderne, die sie auf ihrem Kontinent gewohnt sind. In der Tat wirkt der städtische Raum hier weniger dicht, weniger kontrolliert und segmentiert als etwa in Shanghai oder Peking. Es gibt keine feste Traufhöhe oder klare Fassadenvorschriften, so manche Gassen verlaufen sich im Ungefähren, Häuser können in alle Himmelsrichtungen wuchern, und es kommt vor, dass ein Banyanbaum einmal mitten in einem wrackgegangenen Hochhaus steht.
Der stählernen Kälte eines bedingungslosen Willens zur Akzeleration setzen die Menschen in Taiwan ihre Lust an der Bricolage entgegen, eine hingebungsvoll zelebrierte Vorläufigkeit. Gehäkelte Lampenschirme der Jahrhundertwende, Briefkästen aus grünlackiertem Stahl, eine Alpenflex-Kamera in einem Edelrestaurant. Die Menschen pflegen eine Nostalgie für imaginierte Vergangenheiten, die Besucher aus Europa wohl eher anzurühren vermag als Chinesen oder Amerikaner. Spanische Bastionstürme und holländische Festungen aus den 1640ern, japanische Bürogebäude aus den 1920ern, US-amerikanische Baracken aus den 1970ern: Antikoloniales Aufbegehren ist auf dieser Insel, die sich offiziell immer noch die Republik China nennt, schon oft erprobt worden, und es stört die Menschen nicht wirklich, wenn die Epochen bei guter Absicht einmal durcheinandergehen.
Die glitzernde Trainigshose der Weltgeschichte
So läuft man hier mit glitzernden Trainingshosen und Plastiksandalen durch den Winter, spürt Erdbeben und seltenen Vögeln nach, lässt sich auch noch im Februar, als bereits Sommerliches durch die Straßen schwebt und im fernen Washington Trumps militarisierte Realpolitik Gestalt annimmt, nicht den Experimentiergeist austreiben. Überlaufene Garagentempel (thailändischer Buddhismus ist gerade hip); Workshops zur inneren Alchemie; neueröffnete Reform-Grundschulen, in denen wieder Siraya, die eigentlich ausgestorbene Ureinwohnersprache, unterrichtet wird; Fernsehsendungen über feministische Handlungsmacht; der Analogiezauber der Halbleiterindustrie.
Spätestens seit die Holländer im Jahr 1624 zum ersten Mal die Insel betraten, lernt man hier die Sprachen der Welt. Taiwan oder «Formosa», wie die Portugiesen die Insel nannten: Sprungbrett für globale Karrieren. In den Nächten, unter den fließenden Sternen Ostasiens, wenn die Insekten knisternd in den elektrischen Windlichtern verglühen, denke ich, dass Taiwan eigentlich der glücklichste Ort der Welt ist.