Matthes & Seitz Oct 2024 €25 286 S.
Das Erinnerungsbild, mit dem Wang Xiaobo sein Goldenes Zeitalter eröffnet, wirft ein Schlaglicht auf eine ganze Generation: «Ich war einundzwanzig. Das Goldene Zeitalter meines Lebens. Ich hatte eine Menge extravaganter Träume, ich wollte lieben, ich wollte essen und mich mit einem Wimpernschlag in eine halb im Licht, halb im Dunkeln driftende Wolke verwandeln.» In der brillanten Übersetzung von Karin Betz vibriert dieser Satz exakt so gut wie im Original zwischen jugendlicher Sehnsucht und der Ahnung kommender Ernüchterung. Doch wer erwartet, dass Wangs Erzählung von anfänglicher Euphorie in ungetrübte Verbitterung mündet, wird eines Besseren belehrt. Statt Larmoyanz findet sich beißende Ironie, ein Aufbegehren gegen die Zumutungen der Geschichte, verpackt in einer Prosa, die ebenso lakonisch wie mitreißend ist.
Wangs Stimme ist eine, die in China heute selten geworden ist: polemisch, unverstellt, eigensinnig. Was erzählt dieser 1997 verstorbene Schriftsteller, dessen Werk in seiner Heimat nach wie vor gelesen wird, einem deutschsprachigen Publikum im Jahr 2025? Und was gibt es in seinem Goldenen Zeitalter gleichermaßen für die jüngere Geschichte wie für die chinesische Gegenwart zu entdecken?
Die Kulturrevolution überwinden
Wang Xiaobos Geschichten drehen sich um die sogenannten «gebildeten Jugendlichen» – jene Generation, die während der Kulturrevolution (1966–1976) aus den Städten aufs Land geschickt wurde, um Felder zu bestellen, Vieh zu hüten und die Nation zu «entwickeln». Geboren 1952, erlebte Wang selbst diese Entwurzelung. Mit 17 wurde er in die Provinz Yunnan verschickt, um dort in einer landwirtschaftlichen Produktionsbrigade zu arbeiten. Später war er Lehrer in Shandong, Fabrikarbeiter in Peking, Student in den USA und schließlich freier Schriftsteller. Diese Erfahrungen prägen sein Werk, insbesondere die Novelle Das Goldene Zeitalter, die 1991 erstmals erschien und Teil seiner postum veröffentlichten Trilogie der Zeitalter ist, zu der auch Silbernes Zeitalter und Bronzezeitalter gehören.
Die Novelle ist durchzogen von erotischen Motiven, die für die damalige Zeit bahnbrechend waren. Wang Er und die Ärztin Chen Qingyang beginnen eine Affäre, die nicht nur die ideologischen Zwänge der Zeit herausfordert, sondern auch die Frage nach individueller Freiheit, Sehnsucht und Unterdrückung stellt: «Im Grunde ihres Herzens habe sie schreien, mich wie verrückt umarmen und küssen wollen, aber das habe sie nicht über sich gebracht.»