XeroxFien Veldman übers. v. Christina Brunnenkamp
Hanser Feb. 202423 € 224 S.

Wir ewig eingekeilt
In Schluchten steiler Häuser.
Wir preisgegeben
Der Mechanik höhnischer Systeme.
Wir antlitzlos in Nacht der Tränen.
Wir ewig losgelöst von Müttern,
Aus Tiefen der Fabriken rufen wir:
Wann werden Liebe wir leben?
Wann werden Werk wir wirken?
Wann wird Erlösung uns?

Ernst Toller, Masse-Mensch

Als Siegfried Kracauer in den 1920er Jahren die Recherchen für seine berühmte Studie Die Angestellten beginnt, stößt er auf Unverständnis: «Das steht doch schon alles in den Romanen»1, bekommt er zu hören.

Es gab in der Tat eine Zeit, in der die Literatur Welthaltigkeit bewies, indem sie Arbeitswelten realistisch schilderte und auch dadurch kritisierte. Die späten zwanziger Jahre waren, auch Dank der Kulturpolitik der KPD, ein Höhepunkt der lesenden und schreibenden Arbeiter und des Schreibens über Arbeit. Der Faschismus beseitigte all das. Aber in der sozialistischen Literaturbewegung erlebte das Ansinnen einer schreibenden Arbeiterschaft mit dem Bitterfelder Weg in der DDR und dem Werkkreis Literatur der Arbeitswelt in der BRD in beiden deutschen Staaten Neuauflagen mit zeitweilig durchaus großem Einfluss und Erfolg.

In den 1990er und 2000er Jahren erschien es auf einmal so, als müssten die betuchten Protagonisten der (post-)modernen Literatur überhaupt nicht mehr arbeiten, obschon doch jedes Kind weiß, «[d]aß jede Nation verrecken würde, die für ein paar Wochen die Arbeit einstellte»2 (Karl Marx). Erst im Ergebnis der globalen Finanzkrise, in der die Hegemonie des Neoliberalismus pulverisierte, wurde gelegentlich wieder gearbeitet. Typisch wurde indes die «Tragödie des Leistungsträgers»3, in der sich die Angst der studierten Mittelklassen vor dem sozialen Abstieg ausdrückte. Zweifellos hatte dies auch mit der Klassenherkunft der zeitgenössischen Produzenten von Literatur zu tun. Diesen Umstand kritisierend löste der Hanser-Lektor Florian Kessler mit einem «Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!» betitelten Beitrag4 2014 eine Feuilletondiskussion aus.

Vor diesem Hintergrund des Verlusts von Welthaltigkeit und (klein-)bürgerlicher Selbstbespiegelung ist ein Roman, der nicht nur die Arbeitswelt dokumentiert, sondern auch aus der Perspektive von unten erzählt, ein Ereignis; das Erscheinen von Xerox bei Hanser vielleicht auch nicht ganz zufällig.

Richtige Literatur im Falschen

Zur Relevanz von Fien Veldmans Debütroman gehört, dass er die Maschine, die, nach Marx, unter den Bedingungen des kapitalistischen Privateigentums den Arbeiter zu ihrem «Anhängsel» macht,5 selbst zum Protagonisten erhebt. Auf der Gründungskonferenz des Schriftsteller-Netzwerks Richtige Literatur im Falschen 2015 erklärte die Autorin Annett Gröschner, eigentlich müsste man «heute einen Roman schreiben, wo der Algorithmus […] die Hauptfigur ist, weil viele Hierarchien heutzutage schon durch die Maschinen hergestellt werden.»6 Veldmans Roman Xerox ist indes, wenigstens anfänglich, keiner über die Macht Künstlicher Intelligenz, die nun auch die Arbeitsplätze der sogenannten «professional middle classes» – Journalisten, Ärzte, Rechtsanwälte, Übersetzer – wegrationalisiert. Die unter dem Diktat des Privateigentums als Fluch der Erwerbslosigkeit wirkt, statt als Segen der Befreiung von gesellschaftlich notwendiger Arbeit. Bei Veldman steht nicht «AI» im Mittelpunkt, sondern eine schnöde Druckermaschine: Xerox.

Damit reiht sich der Roman der 1990 im westfriesischen Leeuwarden geborenen Autorin, eine studierte Literaturwissenschaftlerin, ein in die Riege jüngerer Erzählungen mit beseelten Maschinen als Protagonisten, wie Kazuo Ishiguros Klara und die Sonne (2021), Kim Stanley Robinsons Aurora (2015), Dennis E. Taylors We Are Legion (We Are Bob) (2016) oder John Scalzis The End of All Things (2015). Noch sind es eben die Menschen, die Maschinenliteratur und nicht die Maschinen, die Menschenliteratur produzieren. Zwar gelang es schon vor fast zehn Jahren in Japan einer Software, literaturpreisverdächtige Belletristik zu Papier zu bringen, und jüngst gestand eine Autorin von dort, dass fünf Prozent ihres preisgekrönten Werks von ChatGPT geschrieben worden seien. Und dennoch geht es einstweilen noch um die Technik im Zeitalter ihrer künstlerischen Reproduzierbarkeit und nicht um die Kunst im Zeitalter ihrer technischen Produziertheit.

Neben Xerox, dem Gerät, das der Ich-Erzählerin als Projektionsfläche und Gesprächspartner dient, ist Veldmans namenlose Protagonistin aus Fleisch und Blut eine Arbeiterin um die 30, die aus proletarischen Verhältnissen in der holländischen Provinz stammt. «Wir lebten am Rand der Gesellschaft»: Falsche Postleitzahl, falsche Sprache, falsche Kleidung, falsches Leben.

Die Mutter bleibt nach der Scheidung alleinerziehend. Der Chancenungleichheit in der Klassengesellschaft ist die Protagonistin sich bewusst, seitdem ein Mitschüler zu ihr sagte: «Ihr seid die ärmsten Menschen, die ich kenne.» Die Protagonistin erlebt Bourdieus «feine Unterschiede» als ständiges Defizit: Dort das Bürgertum ausgestattet mit Herrschaftswissen, hier sie selbst mit den Markern der Arbeiterklasse – in Geschmack, Dialekt, falscher Weinglashaltung. Sie weiß, dass der Alkoholismus der unteren Klassen Asozialität evoziert, während dieselbe Suchtkrankheit in den oberen Klassen Ausdruck ihres feinen Geschmacks und ihrer Geselligkeit ist.

Aber die Arbeiterklasse ist auch in sich noch gespalten. Es gibt stets noch ärmere Menschen, den Teil der Klasse, der sich selbst schon aufgegeben hat. Der sich und Seinesgleichen mit blindwütender Gewalt zerfleischt. Und anschließend von den Mühlen der staatlichen Repression zermalmt wird. Ein dunkles Geheimnis aus dieser Zeit, das «im Erwachsenenalter fortwirkt, selbst wenn die Lebensumstände nun ganz andere sind»7 Bei Veldmans Protagonistin liest sich das Bewusstsein über diese sozialtraumatische Erfahrung so: «Laut Küchenpsychologie bestimmen die prägenden Jahre den Rest unseres Lebens, und im Fall von meiner besten Freundin und mir haben uns diese Jahre verstümmelt».] (Didier Eribon), gibt der Roman Stück für Stück preis.

Die versteckten Kränkungen der Klasse

Veldmans Protagonistin führt genügend eiserner Aufstiegswille durchs Gymnasium der ständigen Sticheleien und klassistischen Herabsetzungen. Sie studiert. Sie erinnert sich: «Als der Dekan uns Erstsemester begrüßte, stand hinter ihm auf einer großen Leinwand ‹Today’s students, tomorrow’s leaders›. Viele der Studierenden im Saal glaubten diesen Slogan nicht nur, sie strebten ihn auch an, und das tun sie heute, fast zehn Jahre später, immer noch: um das Gesicht der Macht zu werden.»

Auf der Arbeit durchleidet sie, was Richard Sennett in The Hidden Injuries of Class beschreibt: Die Heimatlosigkeit der Sozialaufsteigerin, die dort, wo sie «Teil dieser ganz eigenen Welt» war, nicht mehr hingehört, aber auch dort, wo sie nun ist, nicht dazugehört. «Jetzt, nach meiner Integration in die Bürogesellschaft, werde ich von der Zentrifugalkraft der Existenz erst so richtig an den äußersten Rand der Gesellschaft gedrückt», wie Pluto im Sonnensystem, «nicht einmal mehr ein Planet, sondern nur ein Felsbrocken».

Sie arbeitet in einem nicht mehr ganz taufrischen Start-Up mit insgesamt 30 Beschäftigten, offenbar befristet angestellt, in der Poststelle, dem «am schlechtesten bezahlten Job (vom Putzpersonal abgesehen)», mit einem Lohn, «von dem ein Betrag fürs Mittagessen einbehalten wird». Als eine Kollegin über einen längeren Zeitraum verreist, übernimmt sie auch den digitalen Kundenservice, der natürlich «Support» genannt wird: «Verdopplung meiner Aufgaben», ohne «mehr Geld».

Ihre Arbeit empfindet die Protagonistin als «extrem eintönig», sie «könnte auch von einem Roboter erledigt werden», so «geisttötend wie Einkaufen oder Interviews für Marktforschungszwecke». Veldmans schöne neue Welt ist weit entfernt von Richard Powers‘ Plowing the Dark (2000) oder Dave Eggers‘ The Circle (2013). Sie erinnert vielmehr an Voskuils episches Werk Das Büro (1996), das neben Rilke, Cees Noteboom und Adam Zagajewski auch als Motto zitiert wird. In diesem «Marionettentheater, in dem die Marionetten scheinbar reglos vor einer kleinen Maschine sitzen» existiert nicht einmal der Schein der Selbstverwirklichung durch Arbeit. Es ist die ganz normale bore-out-Realität der Millionen von Angestellten im Hier und Heute. Statt neoliberale Selbstverwirklichungsideologie vom Typ Sascha Lobo1 regiert die Lobotomie durch Arbeit vom Typ Kapitalismus. Die Protagonistin fragt: «Habe ich mich für jede Sprosse auf der gesellschaftlichen Leiter so abgerackert – um schließlich hier zu landen?»

Kracauer urteilte einst, die Angestellten hätten «am allerwenigsten […] das Bewußtsein ihrer Situation».2 Für Veldmans Protagonistin gilt das nur bedingt. In den kursiv gedruckten Monologen, die sich an die Xerox-Maschine richten und stilistisch entfernt an die allgemein-reflexiven Einschübe in John Steinbecks The Grapes of Wrath erinnern, schimmert Klassenbewusstsein durch. Die wahren Machtverhältnisse hinter dem flachhierarchischen Schein durchschaut sie: «Mein Chef hat mich höflich gebeten, dabei hätte ich sowieso nicht nein sagen können. Wir tun in dieser Organisation zwar, als wären alle gleich, aber das ist eine Lüge.» Und sie empört sich: «‹Wir›, schrieb mein Chef, als gäbe es ein ‹Wir›», wissend, dass nach Adorno «Wir sagen und Ich meinen» eine der «ausgesuchtesten Kränkungen»3 ist.

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