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Ein Deutscher ist jemand, der nicht lügen kann, ohne selbst an seine Lüge zu glauben. Sandra Hüller hat aus diesem Aphorismus eine Kunstform gemacht: In The Zone of Interest und Anatomie eines Falls blenden ihre Figuren die Wirklichkeit derart authentisch aus, dass man ihnen glauben muss – oder?
Secondo un noto aforisma, tedesco è colui che non può dire una bugia senza crederci egli stesso. Sandra Hüller ne ha fatto una forma d’arte: in La zona d’interesse e Anatomia di una caduta, i suoi personaggi sono così sinceri nel contraffare la realtà, che si finisce per credergli. Vero?
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Die Fiktion einer «Stunde Null» ließ viele Deutsche nach 1945 an ihre Besserung glauben. Frank Trentmanns Gewissensgeschichte zeigt jedoch, wie sehr das moralische Empfinden der Nachkriegsdeutschen dem der Nazideutschen entsprach – mitsamt einer Mitleidslosigkeit, die noch heutige Debatten prägt.
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Jan Assmann erforschte nicht nur Ursprungsmythen, er erzählte sie auch. Seine These vom Antisemitismus als Reaktion auf monotheistische Gewalt wurde selbst als antisemitisch kritisiert. Doch das war sie nicht, vielmehr zeigte sie das Judentum als Kern und Herausforderung der westlichen Zivilisation.
Jan Assmann, the late scholar of memory studies and a masterful narrator, claimed that antisemitism originated in response to monotheistic violence. Though his argument was itself critiqued as antisemitic, it was not. Rather, Assmann saw Judaism as the core challenge of Western civilisation.
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Vor dem 7. Oktober veröffentlichten Edward Luttwak und Eitan Shamir ein Buch über die «Innovation» der Israelischen Streitkräfte. Die beiden Militärstrategen verschleiern, wie die IDF wirklich vorgehen, und welche taktischen und doktrinären Vorgaben zur beinahe vollständigen Zerstörung Gazas führen.
Before 7 October, the military strategists Edward Luttwak and Eitan Shamir published a sugarcoated account of the Israel Defence Forces’ «innovative» practice and spirit. They gloss over what the IDF actually does, and how various doctrinal elements play out in the near total destruction of Gaza.
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The novel has been pillaged for a long while now. After a decade of memoirs and essays, it seemed that literary imagination had died at the hands of autofiction. With recent books by Hernan Diaz, Benjamin Labatut and Catherine Lacey, the novel strikes back – and starts stealing from nonfiction.
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Elif Batumans Romane treiben ein virtuoses Spiel mit der Literaturgeschichte, und wie im echten Leben kommt es auf die Frage hinaus: Ist Schreibzeit verlorene Lebenszeit? Eine Zeit, in der das Leben erst zu sich kommt? Man muss sich entscheiden: Entweder lebt man viel, oder man schreibt viel. Oder?
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«Da sitzen sie alle, allein zu Hause, und schreiben sich die Seele aus dem Leib, erfahren Mutterschaft als Verlust eines Ichs, das ihnen so lieb geworden ist» – Birthe Mühlhoff seziert die Flut der Neuerscheinungen über Mutterschaft; in harten, ehrlichen, aber doch zärtlichen Worten.
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Mohamed Kordofani gehört zu einer Kohorte junger, autodidaktischer Filmemacher aus dem Sudan. Sein Goodbye Julia lief als erster sudanesischer Film in Cannes. Gender- und klassensensibel erzählt er von der rassistischen Hierarchie zwischen Nord- und Südsudan, die das Leben von Generationen prägt.
In Goodbye Julia, the first film from Sudan to run at Cannes, Mohamed Kordofani portrays the racist hierarchy from North to South as gripping drama of domestic life. The mundane set-up encapsulates a whole society’s political fate and reveals the skill of a filmmaker who never went to film school.
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Han Kang spricht leise und schreibt leise Literatur. Doch gerade damit erreicht sie Themen von äußerster Brutalität. Katharina Borchardt ist ihr mehrmals begegnet und rekonstruiert eine einzigartige literarische Werkgenese: immer nah bei den Pflanzen, an den Grenzen der Sprache und doch politisch.
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Einer Mutter wird das Sorgerecht aberkannt, weil sie jetzt Sex mit anderen Frauen hat. Constance Debré macht aus diesem Trauma Autofiktion. Die Skandalisierung des Buches durch Medien und Kritik zeugt von der tiefen Verankerung heteronormativer Überzeugungen auch in progressiven Kreisen.
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Carlos Fonseca gilt als Wunderkind der lateinamerikanischen Literatur. Eine Künstlerin nach dem Sprachverlust, ein gewissenhafter Anthropologe, ein Literaturprofessor als Detektiv – in seinem dritten Roman Austral treibt er sein Spiel mit den Metaebenen auf die Spitze. Zu welchem Ende?
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Germany takes pride in its memory culture. But its often self-congratulatory remembrance rituals have many blind spots. One of them is the network of international solidarity that the GDR was part of. Echos of the Brother Countries, an exhibition at HKW Berlin, allows for a closer look.
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Die niederländische Literatur hat ein Problem, das auch die deutsche betrifft: Entweder die Leute lesen gar nicht mehr oder sie tun es auf Englisch. Was tun gegen die unerbittliche Amerikanisierung lokaler Kulturen? Eine aufmüpfige Lyrikszene aus den Niederlanden und Flandern legt Fluchtlinien aus.
The Dutch and other «small» book markets are in trouble because either people do not read at all, or they read in English. Who is going to withstand the forces of Americanization? A relentless, cheeky poetic scene in the Low Countries might not have the answer, but it asks the right questions.
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Wer den TikTok-Algorithmus ein paar Stunden lang auf AfD-Content abrichtet, bekommt prompt nach einem Höcke-Interview ein Rommel-Meme zu sehen. Hat die AfD TikTok entdeckt, oder TikTok die AfD?
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Bist du Bürgerkind und fällst hin, dann hebt dich deine Familie auf. Bist du Arbeiterkind, dann bleibst du liegen. Fien Veldmans Roman Xerox zeigt, wie sich die Klassenverhältnisse auch in der scheinbar flachen Start-up-Welt reproduzieren, ja verschärfen.
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Kids these days flock to raves as if they were the latest incarnation of transcendence, but what about the political economy that squeezes profit out of every last pocket of subculture? McKenzie Wark and Hannah Baer on raving during a pandemic, late in life, and its ambivalent politics.