Stadt auf ZeitBruno Pellegrino übers. v. Lydia Dimitrow
die brotsuppe Dez. 202327,00 € 140 S.
MaléRoman Ehrlich
S. Fischer Sept. 202022,00 € 286 S.
Marlow im SandCharlotte Krafft
Korbinian Verlag Sept. 202222,00 € 250 S.
Wie die FliegenSamuel Hamen
diaphanes Mai 202318,00 € 200 S.
Death by LandscapeElvia Wilk
Soft Skull Press Juli 202221,50 € 320 S.

Das Türkis knallt derart intensiv rein, dass es fast schon in den Augen schmerzt. Wenn man Bruno Pellegrinos Roman aufschlägt, meint man, direkt in eine unberührte Karibikbucht zu schauen. Oder vielleicht auch auf die Adria. Gut möglich, dass die Kanäle von Venedig, im richtigen Lichteinfall, irgendwann mal so aussahen, wie es das Vorsatzpapier von Stadt auf Zeit suggeriert.

Heute natürlich nicht mehr, wo sie permanent von Wassertaxis und Vaporetti, Gondeln und Motorbooten aufgewühlt werden, getrübt von Abwasser, Diesel und Müll. Erst recht nicht an jenem grauen, verregneten Tag Anfang Januar, als Pellegrinos namenloser Protagonist die Stadt betritt. Er ist im Auftrag einer Stiftung angereist, um die Unterlagen einer Übersetzerin zu sichten, die sich hier vor mehr als 30 Jahren niedergelassen hat. Der Name «Venedig» fällt im Übrigen kein einziges Mal. Muss er auch nicht, denn wie das erzählende Ich anmerkt: «Ich war zum ersten Mal hier, und alles, was ich sah, kam mir bekannt vor.» Obwohl es sich fast nur zwischen seinem bröckeligen Wohnheim und dem Haus der Übersetzerin hin und her bewegt, fernab ausgetretener Touristenpfade.

«Die brüchigen Betonplatten an der Fassade waren von Flechten grün marmoriert, rostige Schlieren zogen sich unterhalb der Fenster über die Hauswand.» Fast liebevoll sind die Spuren der langsamen Zersetzung durch das alljährliche Acqua Alta beschrieben, als handele es sich um abstrakte Kunst. Die Sirenen, die im Morgengrauen ertönen, schrecken ihn zunächst noch aus dem Schlaf, doch bald schon gewöhnt er sich an sie, zumal er ihre Bedeutung ohnehin nicht erfasst: «Ihr Rhythmus hatte sich verändert, ich wusste nicht mehr, ob man sich Sorgen machen musste oder nicht.» Vielleicht möchte er es auch gar nicht so genau wissen. Stoisch watet er durchs mal knöchel-, mal knietiefe Wasser zur Arbeit und wieder zurück. Er sucht keine Erklärungen, forscht nicht nach, meidet den Kontakt zu anderen Menschen. Sprachbarrieren mögen eine Rolle spielen, doch sein Gefühl der Fremdheit reicht tiefer. Nicht nur glaubt er sich von einem «Gesicht aus Salz» verfolgt, auch die Tierwelt der Lagunenstadt erscheint ihm zunehmend abgründig, wie etwa die Möwe, die «mit ruckartig-dinosaurierhaften Bewegungen» eine Ratte verschlingt. Es gehört zur subtilen Ironie des Buches, dass der junge Forscher ausgerechnet im nicht weniger unheimlichen Haus der Übersetzerin vor der so allgegenwärtigen wie diffusen Bedrohung Zuflucht sucht: ein morbides Antiquitätenkabinett voller staubiger Bücherstapel, samt ominösem Wachsgeruch und ausgestopftem Pfau.

Siechtum der Spätmoderne

Venedig als Symbol für Siechtum und Verfall ist an sich natürlich wenig originell. Spätestens seit Thomas Mann den «leis fauligen Geruch von Meer und Sumpf» in seiner Novelle Tod in Venedig heraufbeschwor, ist die Lagunenstadt als Dekadenzsymbol fest im kulturellen Gedächtnis verankert; einige Jahrzehnte später diente sie in Nicolas Roegs Wenn die Gondeln Trauer tragen als dankbares Setting für allerhand Unheimliches und Übersinnliches. Pellegrino, 1988 geboren und wohnhaft in Lausanne, scheut sich nicht davor, in seinem dritten Roman all diese Assoziationsräume aufzumachen – seine Kunst besteht darin, sie auszubauen, zu verfeinern und fast unmerklich ins 21. Jahrhundert zu transferieren. Dafür reicht ihm oft schon ein einziges, en passant eingeschobenes Tableau: «Im Hintergrund das Kreuzfahrtschiff […], unbeweglich und massiv, von der perfekten Anordnung seiner tausend Fenster ging etwas Unheimliches aus.» Als undurchdringliche Folie für eine Sehnsucht, die zugleich Schrecken ist, wirkt selbst ein derart oft zitiertes Sinnbild für die Auswüchse eines hypertrophierten Kapitalismus bei Pellegrino plötzlich so fremdartig wie eine eben gelandete Raumkapsel.

Wer Venedig gar nicht, oder nur von einem sommerlichen Wochenend-Trip her kennt, mag sich fragen: Sind die schrillen Sirenen im Morgengrauen, die erhöhten Gehsteige, die bei Hochwasser ausgelegt werden, die Straßenverkäufer, die jede Gelegenheit nutzen, um den Touristen überteuerte Gummistiefel anzudrehen, ein zynisch zugespitztes Near-Future-Szenario? Oder bereits Realität? Oder tritt das dystopische Potential erst durch den Blick des Neuankömmlings hervor?

Stadt auf Zeit ist von Lydia Dimitrow kongenial aus dem Französischen übersetzt worden. Das ist ein glücklicher Umstand, denn das diffuse Schillern dieses Buches findet seine Entsprechungen in Werken der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die sprachlich jeweils eigen, aber mit ähnlicher Sensibilität das häufig als Gegensatz gedachte Begriffspaar Utopie/Dystopie neu zu erkunden suchen. Namentlich genannt seien hier – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – Juan S. Guse, Joshua Groß, Leif Randt, Jakob Nolte, Angelika Meier, Sophie Stein, Charlotte Krafft, Roman Ehrlich, Samuel Hamen, Rudi Nuss, Sina Kamala Kaufmann, Ann Cotten und Tim Holland. Will man ihre Texte einem Genre zuordnen, bieten sich Begriffe wie «Weird Fiction», «spekulative Möglichkeitsforschung» oder «Nahphantastik» an: Fiktionen, die sich gerade weit genug von der Realität entfernen, dass ein leichter Verfremdungseffekt entsteht. Bezeichnend, dass keine dieser Autor:innen in einschlägigen Science-Fiction- oder Phantastik-Verlagen veröffentlicht, und ebenso bezeichnend, dass es die wenigsten in großen Publikumsverlagen tun.

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