Keine Zeit ist eine gute Zeit, um eine Zeitschrift zu gründen. Vorbilder aus der Literaturgeschichte zu zitieren, zumal aus der deutschen, zumal die gescheiterten, wäre hier eine leichte Übung. Man könnte ausführen, wie man sich zu dieser nicht ganz kleinen Tradition verhält, gerade wenn und obwohl man sich einen Titel wie Berlin Review gegeben hat.1 Allein, es täte wenig zur Sache. Wir schreiben natürlich auf Deutsch (na ja, überwiegend) und in unseren Köpfen spuken reichlich deutschsprachige Referenzen herum (wenn beim Übersetzen einer Shibli-Zeile kurz Rilke im Sprachzentrum aufploppt: Ah ja, so könnte man das syntaktisch lösen). Wir beziehen uns auch auf diesen Ort namens Deutschland, finden hier unsere Perspektiven und Widerstände, deren Grenzen und Weichbilder. Wir wollen nicht einfach ein internationales Magazin sein, schmuckvoll und seelenlos. Aber die Gegenwart ist auch viel zu divers und unhinged, als dass wir uns in eine deutschsprachige Kontinuität stellen könnten.

Was geschieht gerade? Oder anders: Welche Texte und Monster gebiert unsere Zeit? Und was wollen wir hier mit einer Zeitschrift? Gegenwart heißt für die meisten Medien Debatte, und Debatte heißt Meinung und Deutung. Eine Meinung hat jeder und per Gesetz ist sie frei. Von Deutung wird mehr erwartet; klug soll sie sein, scharf und brillant. Tatsächlich geben sich viele Deutungen heute unfehlbar und sind an neuem Wissen über die Welt nur wenig interessiert. Die eine Schwachstelle, den einen Fehler beim anderen finden, ihn sorgsam archivieren und dann, wenn es passt, ihm unerbittlich um die Ohren hauen. Recht haben, Recht behalten. Besser-deuten, Besser-wissen, doubling down! Das, so scheint es, ist heute Diskurs, oder was die addiktive Digitalität von ihm übrig lässt. Es hat uns alle müde gemacht und viele von uns, behaupten wir mal, auch ein wenig stumpf.

Was Erhard Schüttpelz in Deutland über die «geistesgeschichtliche, aber auch die weitaus meiste sozialhistorische Hermeneutik» schreibt – über die Schule also, die fast alle deutschen close reader und Positions-Abklopfer durchlaufen haben –, das gilt für Diskurs, Debatte und Feuilleton umso mehr: Sie verfahren «exemplifizierend» und weisen «nur ein schwaches Verhältnis zur Ermittlung historischer Ursachen auf, und […] dieses Verhältnis wird umso schwächer […], je überzeugender und konsistenter die ästhetische Exemplifikation ausfällt.» Es bleibt ein geübter Modus des Aus- und sich gegenseitig Niederdiskutierens, der vielleicht mit einer missglückten Stuhlkreis-Sozialisierung zusammenhängt, mit senfgelbem Protestantismus oder dem Phantomschmerz einer verlorenen Konsensgesellschaft? Ist es das graue Wetter oder das Karma von Jürgen Habermas? Die deliberative Demokratie – die Demokratie als Debattierklub – ist jedenfalls eine Utopie, an die niemand mehr richtig glauben kann.

Woran man stattdessen glauben soll, ist nicht klar. Viele verstehen die Frage nicht: Wozu braucht es etwas Höheres oder Verbindendes, wenn doch jede:r seinen persönlichen Entwicklungsplan, seine Karriereleiter, seinen Workout und Google Calendar hat. Es ist doch alles durchgeplant und läuft. Eh bien, non ! Es läuft eben nicht. Es lief schon seit Jahren nicht mehr. Man merkte das, wenn man mal länger weg war und dann in das Land der Schnappatmer und Anrempler zurückreiste. Wenn man sich mit der Bahn aus einem Nachbarland nähert, in dem die Menschen bestimmt genauso viele Fehler, aber auch Manieren entwickelt haben, sich diese etwas verklausulierter oder indirekter vorzuwerfen, dann kann man dem Firnis der Zivilisation beim Abblättern zuschauen. Die deutsche Gesellschaft ist in so viele Einzelstaaten zerfallen, wie sie Mitglieder hat. Es gelingt ihr nicht, die simplen Konflikte des Alltags – die fehlende Platzreservierung, das harmlose Aneinander-Vorbeigehen – anmutig zu lösen.

Wer seiner Zeit und den Menschen zu lange zu böse ist, nimmt selbst Schaden. Das gilt für jede:n Einzelne:n und für alle zusammen. Anscheinend merken das jetzt einige und gehen zu Tausenden auf die Straße; nicht immer klar wofür, aber wenigstens wogegen. Hoffen lässt auch, dass in den letzten fünfzehn Jahren viele Menschen für das Land zu sprechen begannen, die zuvor nicht als richtig diskursfähig (aka «richtig deutsch») galten. Die Bundesrepublik war nie so homogen – wie soll man sagen: so «weiß», so «biodeutsch» –, wie sie es sich selbst einredete. Zwei radikal entgegengesetzte Lager gibt es zu diesem Befund. Die einen wollen zurück in die imaginierte Homogenität, wollen abschieben, dichtmachen, Remigration. Die anderen – und dazu gehören noch immer die Entscheider in Kunst, Literatur und Kultur – umarmen das Heterogene und schmücken sich mit ihm; laden sich Internationalität zum Abendessen ein, setzen sie ins Ausstellungsprogramm und geben ihr diesen oder jenen Preis. Und bekommen dann patriotische Reflexe, wenn eine:r der Internationalen nicht einsehen will, was deutsche Sensibilitäten und diskursive Regeln sind.

Es leben so viele hier, die das Land an anderen Standards messen wollen, die seine Macken sehen und es als weniger vorbildlich erkennen, als es selbst so gerne wär’. Sie sagen und schreiben das auch, trotzig und niederschwellig im Dauerfeuer des Internets, prominent und einschneidend im New Yorker oder in The Economist. Auch deutsche Leser:innen merken, dass «ausländische Medien» (gemeint sind damit in der Regel vier bis sechs Zeitungen oder Magazine aus USA und UK) sich fragen, was denn wohl los ist mit diesem Land. Wir fragen es uns auch. Eines nur ist uns klar: Mehr Meinungen brauchen wir erstmal nicht. Mehr Befindlichkeiten auch nicht. Was wir brauchen, ist literarisches Wissen, Mut zur Genauigkeit, vielleicht auch Schönheit, Ablenkung und Nerdiness. Texte, die ein Fenster aufmachen und – How German Is It? – mal kräftig durchlüften.

Berlin Review will literarische Schreibweisen groß machen und doch bei den Fakten bleiben. Wir wollen Raum für Abschweifungen geben, aber auch für volle Konzentration. Das Wissen über die Welt ist ja längst da: Es ist nur so ungleich verteilt. Bücher schreiben die anderen. Forschung wird an Instituten und Schreibtischen gemacht, die dem Lärm da draußen völlig zu Recht enthoben sind. Deshalb müssen Redaktionen filtern, filetieren, aussuchen, anfragen. Die Paywall kann ein Schutzwall sein, aber auch ein robuster Ring für Dinge, die auseinanderstreben.

Im Zentrum vieler, wenn auch nicht aller unserer Texte stehen Bücher: als Anlass für Kritik, für Auseinandersetzung zum Thema, auch für eine nach innen gerichtete Reflexion. Elad Lapidot zum Beispiel liest David Grossman, einen Autor, der ihn seit Jugendzeiten begleitet und der für seine Gefühlsbildung und Weltwahrnehmung entscheidend war. Wenn sein Text nun in Grossmans Schreiben nach dem «denkenden Herz» sucht und es nicht mehr so leicht findet, dann öffnet sich etwas, dann entsteht ein wahrer Moment, in dem Pathos, Logos und Ethos nicht voneinander zu trennen sind.

Mindestens ein Teil dieser Redaktion schleppt eine fast manische Skepsis vor «Narrativen» mit sich herum, und doch lässt es sich kaum anders sagen: Jeder Beitrag unserer ersten Ausgabe erzählt seine eigene Geschichte. Manche Texte sind uns fast mühelos zugefallen, andere wurden mit großem Aufwand herangeschafft, auf Eis gelegt und dann wieder aufgetaut. Alle achtzehn Beiträge haben wir wieder und wieder (mal wie heiße Eisen, mal wie rohe Eier) in die Hände genommen, gewälzt und gewendet, ins Koma kommentiert und wieder wachgerufen, bis sie schließlich eine Form zwischen Pragmatismus und Utopie (Wallenhorst) gefunden haben, die unseren Gespinsten von Perfektion und dem Geist unserer Autor:innen entspricht.

Man könnte sagen bom, okéé, tamam, ist das nicht normal für jede Redaktion? Kann sein. Uns hat die extremsportliche Aufmerksamkeit, mit der wir jeden Beitrag bestürmt haben, trotzdem berauscht. In der Rückschau können wir jetzt guten Gewissens sagen, warum wir uns für den langen institutionellen Atem hinter Jon Fosses nobelpreisträchtiger Verstummungspoetik interessieren (Hottner); warum man sich, um die Zukunft des Schreibens zu begreifen, nicht nur mit KI, sondern genauso gut mit bösartigen Briefwechseln aus dem vorvorherigen Jahrhundert beschäftigen kann (Stoney); warum man Romance-Romane, Bücher also, die junge Leserinnen heute verschlingen, ganz ohne Zynismus und Häme analysieren sollte, ohne dabei Machtverhältnisse der symbolischen Ökonomie aus den Augen zu lassen (Amlinger).

Man könnte auf den Gedanken kommen, das alles wäre von langer Hand geplant gewesen. Verständlich ist die Versuchung, schon beim Hineinblinzeln in diese erste Ausgabe mit ihren düster schwankenden Gestalten – mit Monstern (Engelmeier, Shibli), Extremisten (Fassin, Lapidot), Gespenstern (Shiblis literarischen, Pauls’ monetären, Landenbergers postsozialistischen, Prestels falschen oder erst gar nicht archivierten), Kriegsmüden und Kriegsversehrten (Belorusets), mit dröhnenden oder leise-elegischen Apokalyptikern (Borchardt, Kümmel, Rinck) – ein Porträt unserer Gegenwart erkennen zu wollen.

Dabei ist, wer diesen Gestalten begegnet, noch lange nicht am Grund angelangt, an dem die freundlich-halsstarrigen status quo-Bewahrer warten: die nicht zu bremsend innovativen und immer schon malthusianisch gesinnten Menschenfeinde des Silicon Valley (Lüttge) und, closer to home, die unnachgiebigen, aufrichtig-betretenen Politiker:innen der Bonn-Berliner-Republik (Krastev & Holmes). Ob da ein Blick in die Vergangenheit, am besten in eine, die selbst alkoholsüchtigen Genies (Engelmeier) wie William Faulkner ganz tot und vergangen vorkommen muss, Trost spenden kann, oder zumindest etwas Sanftmut gegenüber der heutigen Zeit (Mühlhoff)? Wir wissen es nicht; und ehrlich gesagt: Jede:r sehe es, wie sie/er da will. Wir legen ein Stück unserer Editoren-Herzen in die Hände unserer Leser:innen, die, daran glauben wir, schon wissen, welche Schlüsse sie ziehen wollen, warum sie sie ziehen und vor allem: woraus.

Es ist eine Art trotziges Urvertrauen, das wir, noch einmal potenziert, auch in unsere Autor:innen legen. Sie sind der eigentliche Grund, warum wir uns das hier zumuten und zutrauen. Schon die erste Runde gab uns einen Geschmack davon, was passiert, wenn man in einen echten Austausch tritt, wenn man einer Person, die seit Jahren against all odds nicht davon ablässt, am unersetzbaren Wert des Verfertigens der Gedanken beim Schreiben festzuhalten, mehr als eine Plattform für Deutung oder Meinung bietet: ein Medium nämlich, im transformativen Sinn, in das man blickt und sich dann fragt: Worum geht es? Worum uns? Jetzt und hier? Jede Zeit ist eine gute Zeit, um eine Zeitschrift zu gründen.

Anm.:
  1. «Ganz falsch, meine Herren. Die Zeitung muß einen ganz banalen Kopf haben, den jeder Mensch sich ohne weiteres merken kann.» Egon Erwin Kisch bei der Gründung der Literarischen Welt.
Bio:
Caroline Adler, Tobias Haberkorn, Eliana Kirkcaldy, Samir Sellami [Mehr lesen]