Der Tag, an dem die Sonne starbYan Lianke übers. v. Marc Hermann
Matthes & Seitz März 202425,00 € 240 S.

Es ist dunkel und heiß in Yan Liankes neuem Roman. Er erzählt von einer katastrophischen Hochsommernacht im fiktiven Dorf Gaotian im Kreis Zhaonan, und der wiederum «liegt im Zentrum der Zentralen Ebene und unser Dorf im Zentrum des Kreises. Also bildet unser Dorf den Mittelpunkt von China und damit den Mittelpunkt der Welt». Die anhaltende Hitze hat bereits manch einen Dörfler dahingerafft. Deshalb ist das Geschäft «Neue Welt» – ein Laden für Bestattungsbedarf – bereits restlos leergekauft. Da braut sich was zusammen, merkt der 14-jährige Niannian, Sohn des Ladenbesitzers. Er erzählt die Geschichte dieser schwärzesten Nacht des Jahres, und er nennt sie die «Nacht des Großen Schlafwandelns». Es ist Der Tag, an dem die Sonne starb, denn danach bleibt es dunkel auf Erden. Schlimmer geht es nicht.

Unter den chinesischen Gegenwartsautor:innen ist Yan Lianke sicherlich einer der düstersten. Von seinem Interesse an allem Dunklen berichtete er ausführlich, als er 2014 in Prag den Franz-Kafka-Preis erhielt. «Ich bin», sagte er in seiner Dankesrede, «ein unabhängiger Autor der Dunkelheit».1 Geboren wurde er 1958, also zu Beginn des Großen Sprungs nach vorn, der selbst Yans fruchtbare, weil am Gelben Fluss gelegene Heimatprovinz Henan in eine Hungerkatastrophe stürzte. Dreißig bis vierzig Millionen Chinesen verhungerten in nur wenigen Jahren. Schon als Kind, sagte Yan in Prag, habe er eine Dunkelheit erlebt, die ihn seither beschäftigt. Um dem Elend des Landlebens zu entkommen, ging er zur Volksbefreiungsarmee und arbeitete lange erfolgreich als Autor beim Militär. Diese eigenartige Position geht auf Mao Zedongs berühmte «Reden bei der Aussprache über Literatur und Kunst» zurück, die er 1942 in der für die kommunistische Bewegung wichtigen Stadt Yan’an hielt.2

Für die Befreiung des chinesischen Volkes wollte Mao der selbst dichtete, «die Front der Feder und die Front des Gewehrs» zusammen denken. So finanzierte das Militär später eigene Autoren wie Yan Lianke, die dem Volk ganz im Sinne des Sozialistischen Realismus die schönsten Heldengeschichten schrieben. Mit Ausbruch des chinesisch-vietnamesischen Kriegs im Jahr 1979 aber verrieten ihm viele Kameraden ihre Ängste. Aus Helden wurden Menschen, Yans Schreiben veränderte sich. Wenn man diese Vorgeschichte kennt, liest man seinen späteren Roman Dem Volke dienen mit noch größerer Verblüffung: Darin tobt ein einfacher Soldat mit der Frau seines Vorgesetzten durchs Bett, und die beiden zerdeppern im Sexrausch Mao-Devotionalien und Revolutionsandenken.

In Interviews spricht Yan Lianke freimütig über sein Schreiben und auch über Politik. Das ist ungewöhnlich. Wenn sich andere chinesische Autor:innen trauen, Interviews zu geben, versuchen sie meist, sich nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen, am besten nicht mal in die Nähe eines Fensters zu kommen. Exil-Autoren wiederum sind oft im Modus der Dauerkritik an der chinesischen Staatsführung, Sperrfeuer nonstop. Daher erstaunen Yan Liankes Äußerungen so sehr, denn sie wirken ehrlich, maßvoll und luzide. Mit Kritik an chinesischer Politik hält er nicht hinterm Berg, wie er auch in seinen bislang ins Deutsche übersetzten Romanen immer dahin geht, wo’s wehtut.

Neben dem schon erwähnten Band Dem Volke dienen sind von Yan Lianke bisher erschienen: Lenins Küsse (Thema: Hungersnot und Gründung eines Zirkus mit behinderten Darstellern), Der Traum meines Großvaters (AIDS-Epidemie unter Bauern nach staatlich induzierter Blutspendeaktion) und Die vier Bücher (Akademiker im Umerziehungslager). Yan lebt zwar in Peking, doch seine Romane spielen meist in seiner Heimatprovinz Henan. Sie erzählen davon, wie Menschen zwischen die Mahlsteine der jüngeren chinesischen Geschichte geraten. Ein Hauch von Phantastik lässt Yans Geschichten dabei stets so wahnhaft erscheinen, dass sie das politische China überspitzt, aber doch erkennbar reflektieren. Yans Übertreibungen können als potenzierter Realismus gelesen werden, als Gegennarrativ zur blankgeputzten Geschichtsschreibung der Volksrepublik. Einige seiner Bücher sind in China erlaubt, andere verboten. Daher publiziert er seine Bücher aktuell im unabhängigen Taiwan, so auch den 2015 erschienenen Roman Der Tag, an dem die Sonne starb.

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