Heptalogie I–VIIJon Fosse übers. v. Hinrich Schmidt-Henkel
Rowohlt Dez. 202398,00 € 1152 S.
Melancholie I–IIJon Fosse übers. v. Hinrich Schmidt-Henkel
Rowohlt  Dez. 202314,00 € 448 S.
EssayJon Fosse
Samlaget Jan. 2011ca. 38,00 € 536 S.
Hund og Engel (Hunde und Engel)Jon Fosse
Samlaget Jan. 2011ca. 31,00 € 85 S.

Jon Fosse muss es geahnt haben und war vorbereitet. Eigentlich zwischen Oslo und dem österreichischen Hainburg an der Donau pendelnd, erwartet Fosse die Nobelpreis-Neuigkeiten am Kai in Frekhaug, einem kleinen Ort nördlich von Bergen in Westnorwegen. Sicherlich ging es ihm auch darum, dem Trubel, der ihn an diesem Tag in Oslo ereilt hätte, zu entkommen. Zugleich ist der Ort, an dem er die Gratulationen entgegennimmt und sein erstes Interview mit dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender NRK führt, als Kulisse bewusst gewählt. Wer dem «Unsagbaren eine Stimme gibt», so die pathetisch-nichtssagende Begründung der Stockholmer Jury, will sich nur ungern mit einer in Oslo besonders ausgeprägten urbanen Hässlichkeit assoziiert sehen, sondern lieber mit drastischen Naturlandschaften. Und so steht der Autor in seinem Ledermantel am Wasser, im Hintergrund der Fjord, Regenwolken ziehen auf. Für viele seiner Leser:innen ist Fosses Literatur untrennbar mit dieser «erhabenen», «zerklüfteten» oder «kargen» Landschaft verbunden. Sie scheint jenen stimmungsvollen Hintergrund zu bilden, vor dem sich seine ernsten, leicht depressiven Figuren mit den «großen Fragen des Lebens» abquälen.

Fosse ist in dieser Landschaft aufgewachsen, in Strandebarm, unweit von Ulvik, wo auch eines seiner großen Vorbilder gelebt und geschrieben hat: der Dichter, Übersetzer und Apfelbauer Olav H. Hauge. Wie Fosse schrieb auch er auf Nynorsk, der als poetisch gerühmten und hochgradig flexiblen, aber auch weitaus unbedeutenderen Standardvarietät des Norwegischen, die heutzutage nur noch von rund fünfzehn Prozent der Bevölkerung gebraucht wird. Die Tatsache, gerade den größten aller Literaturpreise gewonnen zu haben, macht Fosse sichtlich stolz.

Gleichzeitig wiegelt er mit einer etwas aufgesetzt wirkenden Bescheidenheit ab: Der erste Roman sei ja bereits vor 40 Jahren erschienen, geschrieben habe er immer und werde das auch weiterhin tun, es sei ja sein Leben, nur mit sich selbst werde er nicht konkurrieren, ein Monumentalwerk wie die Heptalogie nicht mehr in Angriff nehmen, feiern selbstverständlich im kleinsten Kreis und grundsätzlich «versuchen», sich über den Preis zu freuen. Dieser sei, so Fosse zum Ende des Interviews, zwar vornehmlich eine persönliche Ehre, zugleich aber auch eine Würdigung der neunorwegischen Literaturtradition. Die Zugehörigkeit zur westnorwegischen Literatur, ihrer ehrwürdig monumentalen Landschaft sowie seinem «geliebten Nynorsk» 1 betont Fosse mit einer an seine Figuren gemahnenden Wiederholungslust immer wieder. In seiner Preisrede am 7. Dezember 2023 wird er gleich zwei Mal aus Hauges Werk zitieren.

Der mit der Landschaft und Sprache seiner Kindheit in Verbindung stehende Mystiker Fosse, das «stille Genie», wie ihn die London Review of Books nennt, beschäftigt mit den allerhöchsten und zeitlosesten Themen, der Nichtigkeit des Literaturbetriebs enthoben – fast gelingt es Fosses Inszenierung als Autor, uns vergessen zu machen, dass gerade sein Werk aufs Engste mit einer Vielzahl literaturbetrieblicher Infrastrukturen, Akteure und Institutionen verbunden ist, dass dieses scheinbar so reine Fosse-Nynorsk getränkt ist von anderen Sprachen, Stimmen und Tonlagen. Um es gleich ganz deutlich zu sagen, geht es mir auf keinen Fall darum, dem Nobelpreisträger die Originalität abzusprechen: vor allem der Rhythmus seiner «langsamen Prosa», die murmelnde Rosenkranzigkeit der Heptalogie habe ich als einzigartiges und unvergleichliches Leseerlebnis empfunden. Mit Sicherheit ist ein wichtiger Teil dieses berauschenden Werks zurückzuführen auf tausende Stunden Exerzitium in abgeschiedenen Schreibhütten im Fjord. Doch ebenso sehr ist Fosses eingeübte Bescheidenheitsgeste, sein sermo humilis, die Einfachheit und der existentielle Tiefsinn Produkt seiner Einbettung in diverse Diskurse und Strukturen des Literaturbetriebs.

Gemeint ist damit nicht nur die Arbeit der NORLA (Norwegian Literature Abroad), jener staatlich subventionierten Exportagentur norwegischer Literatur, die mit sehr viel Geld nachhilft, dass norwegische Literatur und in den letzten Jahren vor allem auch Fosse in alle nur denkbaren Sprachen übersetzt wird. Gemeint sind auch Fosses jahrzehntelange Tätigkeiten als Feuilletonist, Übersetzer und (wer kann es heute noch glauben) Literaturpädagoge als Faktoren für das geglückte Reifen dieser Stimme des «Unsagbaren», die in so vielen Ländern Anklang findet. Das ist das Interessanteste am Phänomen Fosse – zu beobachten, wie der durchschlagende internationale Erfolg der letzten Jahre zwei scheinbar unvereinbare Aspekte zusammenbringt: die gelebte Inszenierung der Fjordeinsamkeit in Frekhaug und ein hochgradig verzweigtes, dicht geknüpftes Netzwerk aus Literaturpolitik, Reihenherausgeberschaften und Feuilletonkultur. Man sollte diese Aspekte von Fosses Autorschaft nicht den Augen lassen, gerade weil sie dem so erfolgreich verbreiteten Image eines der Welt abhanden gekommenen Mystikers entgegenstehen.

Show Don’t Tell, Write Don’t Show

1983 erscheint der Debütroman Raudt, svart (Rot, schwarz). Gerade am Anfang seiner Karriere tritt Fosse als ein extrem produktiver Essayist und interventionistischer Kritiker auf. Die beiden Essaysammlungen Frå telling via showing til writing (1989) und Gnostiske Essay (1999) zeigen ganz deutlich, auf welchen theoretischen Prämissen dieses Werk ruht. Als ernsthafter Student der Literaturwissenschaften an der Universität Bergen nutzt Fosse ein lebendiges Universitätsmilieu, um sich als Jungschriftsteller in Szene zu setzen, gegen die Älteren zu hetzen und sich über eigene Theorielektüren klar zu werden. Abschließen wird Fosse sein Magisterstudium mit einer Derrida-inspirierten Arbeit zur Romantheorie. Wenn für den späteren Nobelpreis-Fosse nur noch Meister Eckart als Referenz übrig zu bleiben scheint, wimmelt es in den frühen Essays an Einflüssen und Gewährsmännern. Zusammen mit Atle Kittang, dem Gründer des literaturwissenschaftlichen Instituts in Bergen und theorieaffinen Schriftstellern wie Øyvind Berg, Jan Kjærstad, Svein Jarvoll oder Ole Robert Sunde macht Fosses enthusiastische Theorierezeption ein wichtiges Kapitel seiner innernorwegischen Geschichte aus. Fosse initiiert zu dieser Zeit beispielsweise eine Teilübersetzung von Theodor W. Adornos Noten zur Literatur, für die er selbst den Aufsatz «Satzzeichen» ins Norwegische überträgt1 – eine nicht unbedeutende Wahl für einen Schriftsteller, der wie Adorno von der engen Verwandtschaft von Sprache und Musik ausgeht und mit der Heptalogie einen tausendseitigen, kommagetränkten Roman vorgelegt hat, einen Roman ohne einen einzigen Punkt.

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