Im September 2022, etwa ein halbes Jahr nach Beginn der russischen Großinvasion in der Ukraine, konnte man in Berlin Zeugin einer spannungsreichen Diskussion zwischen zwei exilierten russischen Intellektuellen werden: Bei der Veranstaltung Postsoviet Cosmopolis – Russia: Toxic Homeland des Internationalen Literaturfestivals Berlin saßen der populäre Krimi-Autor und Hobbyhistoriker Boris Akunin (eigentlich Grigori Schalwowitsch Tschchartischwili) und der Schriftsteller Sergej Lebedew gemeinsam auf der Bühne, der Literaturwissenschaftler Zaal Andronikashvili moderierte. Der Saal war gut gefüllt, die meisten Zuhörer*innen waren Akunin wegen gekommen, wie der Applaus für seine Statements und die lange Schlange zum Signieren seiner Fandorin-Bestseller nach der Diskussion verrieten.

Akunin sprach viel an diesem Nachmittag, vor allem über seine Lehre der zwei Russlands, vom echten und vom falschen, guten und bösen, «Yin und Yang» (vielleicht hat ihn hierzu seine Ausbildung als Japanologe inspiriert): Es handelt sich um ein Schema polarer, dualistischer Kräfte, das Ivan den Schrecklichen, Stalin und Putin auf der einen, Puschkin, Tschechow und natürlich auch Akunin selbst auf der anderen Seite verortet. Die zwei unversöhnlichen Pole befinden sich laut diesem Modell im permanenten Ringen um die ideologische Vorherrschaft über die russische Bevölkerung, eine totalitäre und verlogene gegen eine freiheitliche, aufrichtige Haltung. Bereits im März 2022 hatte Akunin die Initiative Nastijaschtschaja Rossija – True Russia – Echtes Russland mitbegründet, deren Anliegen es ist, russische exilierte Kulturschaffende in aller Welt gegen Russlands Angriffskrieg zu vereinen. In seinen öffentlichen Auftritten fordert Akunin, die Wörter «russisch» und «Russland» zu schützen und zu rehabilitieren. Zwar erwähnt er stets auch die Schrecken, die der russische Angriffskrieg über die Ukraine gebracht hat, doch seine persönliche Sorge scheint sich auf das «echt» Russische zu beschränken, als dessen Künder sich Akunin – einer höheren Weisung, ganz den Worten Puschkins folgend – inszeniert. Als Prophet eines ursprünglich wahren, schönen, guten Russlands empörte er sich auf der Veranstaltung in Berlin selbst darüber, dass ukrainische Schriftsteller*innen nicht mit ihm in einen öffentlichen Dialog treten wollten.

Es lässt sich nicht bestreiten, dass Akunin Opfer des repressiven russischen Staates (nicht aber seiner ukrainischen Kolleg*innen) ist: 2014 musste er nach der Annexion der Krym emigrieren, lebt nun als britischer Staatsbürger in London und wurde erst kürzlich auf die russische Terrorliste gesetzt, zum ausländischen Agenten erklärt und vom Innenministerium der Russischen Föderation zur Fahndung ausgeschrieben. Doch sein naiver Vorwurf, die Ukrainer*innen hätten Besseres zu tun, als mit ihm, einem der beliebtesten russischen Schriftsteller, zu plaudern, irritierte mich. Diese Anklage vom sicheren Berlin aus, gerichtet an Menschen, die ihr Land wegen russischer Bomben und Raketen verlassen oder täglich um ihr Leben fürchten müssen, Angehörige verloren haben, klang verkehrt und unaufrichtig.

Akunin gibt in seinem Modell, auf das er in Interviews und Reden immer wieder zu sprechen kommt, zu, dass auch Puschkin, Nationaldichter und Patriarch der russischen Literatur, eine «andere», dunkle, imperialistische Seite habe, die von den destruktiven Kräften – in Akunins Vorstellung das «falsche Russland» – vereinnahmt werde. Doch trotz allem lässt sich das heutige Russland nicht einfach in Gut und Böse, Echt und Falsch, Yin und Yang aufteilen. In ihm herrschen tiefe Verstrickungen und eine widersprüchliche Gegenwart, die wie besessen von repressiven Vergangenheiten ist. Akunins «echtes» Russland – ob mit oder ohne Puschkin – ist Einbildung, Fantasie. Ein besseres als das heutige grauenvolle wird erst möglich, wenn die Verbrechen der Vergangenheit und Gegenwart aufgearbeitet sind – und nicht einfach, wie in Akunins Modell, abgetrennt, ausgelagert, beiseite geschoben werden.

Sergej Lebedew zeigte sich auf der Bühne bescheidener, zurückhaltender. Ja, er spreche noch mit seinen ukrainischen Freund*innen, gehe damit aber nicht hausieren. Lebedew, seit über fünf Jahren in Potsdam im Exil lebend, ist aktuell wohl der wichtigste literarische Kartograph des dystopischen Russlands der Gegenwart.

In seinen Texten sucht er nach den Wurzeln der sich Bahn brechenden, nach innen und außen gerichteten Gewalt. Lebedew denkt nicht binär, sondern komplex, ergründet die dunklen Ecken der russischen Erzählung, die unerforscht geblieben sind: «Über die Geister des Tschekistenstaats und über die verbrecherische Vergangenheit der Sowjetunion zu sprechen, wäre der erste Schritt, um eine Gegenwart und eine Zukunft überhaupt möglich zu machen», teilte Lebedew der taz in einem im November erschienenen Interview mit. Er vergleicht Russland in seiner neuen Erzählung Hell war die Nacht mit dem Gebäude der Lubjanka, das von außen zwar eindrucksvoll aussehe, aber von innen verrottet: «Balken, Zwischenbalken, Rohre – alles durchfault.» Es Stück für Stück instand zu setzen, ergebe keinen Sinn, denn das sei «wie das Flickwerk an einer Leiche». Von dieser Überzeugung ist sein gesamtes literarisches Schaffen geprägt.

Aus einer Geolog*innen-Familie stammend, arbeitete Lebedew seit seiner Jugend bei Feldforschungen im Norden Russlands und in Kasachstan mit – jene Orte, wo sich bis in die 1960er Jahre die Straf- und Arbeitslager der SU (GULags) befanden, wohin Menschen aus der gesamten Sowjetunion verschleppt, wo sie gefoltert und ermordet wurden. Lebedew studierte in Moskau verschiedene Fächer, ohne je eines davon abzuschließen, arbeitete anschließend als Journalist und veröffentlichte seit 2010 insgesamt fünf Romane, die um das repressive Erbe der Sowjetunion und seine tiefen und zugleich übersehenen Spuren in der Gegenwart kreisen. 2010 erschien sein Debütroman Predel Zabwenija (Die Grenzen des Vergessens) und 2013 die deutsche Übersetzung als Der Himmel auf ihren Schultern – wie in Folge alle seine Bücher gelungen ins Deutsche übertragen von Franziska Zwerg im S. Fischer Verlag.

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