The Art of Military Innovation. Lessons from the Israel Defence ForcesEdward Luttwak & Eitan Shamir
Harvard University Press Okt. 202327,99 € 281 S.

Am 10. Oktober 2023, drei Tage nach dem Massaker der Hamas an der Zivilbevölkerung im Süden Israels, fragte der Londoner New Statesman den altgedienten Autor für Militärfragen Edward Luttwak, ob die Gefahr bestehe, dass die Strategie der israelischen Streitkräfte (IDF) «zu einer Belagerung ausartet, wie wir sie in Aleppo gesehen haben?» Die Antwort lautete: «Nein, sie werden nicht die Zivilbevölkerung ins Visier nehmen. In Aleppo wurde die Zivilbevölkerung ins Visier genommen. Die jetzige Situation ist nicht vergleichbar mit Aleppo, wo die syrische Regierung mit dem Ziel bombardierte, Menschen zu töten. Die Israelis bombardieren nur, um die Hamas zu töten. Sie bombardieren selektiv. Wenn sie kein wirkliches operatives Ziel haben, bombardieren sie nicht. In Aleppo gab es keinen Vorwand.»

Fünf Monate später könnte die Zahl der Getöteten im Gazastreifen, die im Allgemeinen auf über 30.000 geschätzt wird, der Zahl der Opfer entsprechen, die in Aleppo – in der schrecklichsten Episode des schlimmsten Bürgerkriegs jüngerer Zeit – über vier Jahren gestorben sind. Der Internationale Gerichtshof hat Israel mit den Worten der Völkermordkonvention ermahnt, die Tötung von Zivilisten einzustellen und den Palästinensern keine «Lebensbedingungen aufzuerlegen, die auf [ihre] physische Zerstörung abzielen». Angesichts von Hunger und Krankheit, die rasant um sich greifen, glauben viele, dass Israels Feldzug eine solche Situation bereits herbeigeführt hat.

Der New Statesman interviewte den Autor zu seinem neuen Buch über die «Lehren von den israelischen Streitkräften», das er gemeinsam mit Eitan Shamir verfasst hat, dem Leiter des Begin-Sadat Center for Strategic Studies an der Bar-Ilan-Universität nahe Tel Aviv. Luttwaks Sicht auf Gaza hat sich seit Oktober kaum verändert: Seine Presseartikel feiern Israels Erfolge nicht nur im Hinblick auf die physische Zerstörung der Hamas, sondern auch bei der Begrenzung eigener Opfer. Über den Tod und das Leiden unschuldiger Zivilisten, darunter viele Kinder, ist selbst in seinem umfangreichen Twitter-Feed kaum die Rede: «Ja, Zivilisten, aber keine Unschuldigen: Wie die Deutschen des Zweiten Weltkriegs den Nazis dienten, dienen sie der Hamas», schrieb er am 22. Januar 2024. Es ist dieselbe Logik, die auch die islamistische Organisation bemüht, um das Massaker an Kibbuzniks und Festivalbesuchern im vergangenen Oktober zu rechtfertigen. Luttwak ärgert sich über die mediale Akzeptanz des Flüchtlingsstatus der Gazaouis, aber nicht über das Leid, das Israel ihnen zufügt.

In Luttwaks und Shamirs Buch werden diese Umstände kaum angedeutet, obwohl sie schon nach den Gaza-Kriegen von 2008/9, 2012, 2014 und 2021 offen zutage lagen. Durch The Art of Military Innovation zieht sich die Idee, dass das israelische Militär einen entschlossen «innovativen» Geist besitze, der sich in seiner Organisation und Technologie zeige. Obwohl das Buch dankenswerterweise ohne die abgedroschenen Behauptungen auskommt, dass die IDF das «moralischste Militär» der Welt und Israel selbst die «einzige Demokratie» der Region seien, beschreibt es mit einem unerbittlichen Optimismus die institutionelle, technologische, strategische und soziale Modernität der israelischen Armee im Vergleich zu den USA, Großbritannien und Frankreich – die allesamt, so heißt es, viel von ihrem schlanken Verbündeten im Nahen Osten lernen können.

Darüber hinaus seien die IDF, so Luttwak und Shamir, ungewöhnlich offen für neue Formen militärischer Praxis. Sie beschreiben die IDF-Geschichte als eine Auseinandersetzung mit der Militärdoktrin, von den Ursprüngen in den zionistischen Milizen vor dem Zweiten Weltkrieg bis zum späteren Austausch mit britischen, französischen, deutschen und US-amerikanischen Traditionen, und ziehen daraus den radikalen Schluss, dass die israelischen Streitkräfte gar kein übergeordnetes Ideengebäude hätten, so dass sie offen seien für – natürlich – Innovation.

Die Dahiya-Doktrin

Einige fragen sich vielleicht, ob Innovation, wie diese Ausführungen nahelegen, auch immer eine Tugend ist. Unter doktrinärer Offenheit kann Praxis zur Doktrin gerinnen, und viele Kommentatoren glauben, dass genau das geschieht: Israel folgt einer kohärenten Vorgehensweise, zumindest für Situationen wie in Gaza, nämlich der «Dahiya-Doktrin». Bei Luttwak und Shamir wird man vergeblich nach einer Erwähnung des namengebenden Beiruter Vororts suchen, den die IDF 2006 pulverisierten, oder der daraus folgenden zentralen Ideen: Zerstörung der staatlichen und zivilen Infrastruktur, dazu der absichtlich «unverhältnismäßige» Einsatz von Gewalt zur Abschreckung der Zivilisten und des bewaffneten Feindes.1

Es ist auffällig, wie gründlich The Art of Military Innovation die für das Verständnis der heutigen Katastrophe relevantesten israelischen Innovationen verkennt. Dass die IDF den Dahiya-Ansatz in den Bombardierungen des Gazastreifens zwischen 2008 und Oktober 2023 perfektionierten, wird im Buch nicht erwähnt, und auch der zynische Euphemismus, mit dem diese Operationen seither beschrieben wurden, fehlt: «mowing the grass». Da Shamir selbst zu denen zählte, die das «Grasmähen» zur Doktrin erhoben haben, ist es überraschend, dass es im Buch nicht zum Thema wird.2

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